Mit Deleuze im Kino

Der 1995 verstorbene Philosoph Gilles Deleuze war sicherlich einer der bedeutendsten Denker des Poststrukturalismus. In seinen beiden letzten Büchern über das Kino hat er nicht nur seinem dem Zusammenhang von Sinn und Zeichen gewidmeten Werk eine entscheidende medienphilosophische Wende gegeben, sondern auch einen bedeutenden Beitrag zur aktuellen Bilddebatte geleistet. Zugleich entpuppte sich damit eine zweite Seite des Gilles Deleuze: der passionierte Kinogänger. Die Souveränität des Badens in der Fülle von Film-Beispielen und -Zitaten zeugte von den vielen und intensiven Stunden, die er über Jahrzehnte im Dunkel der kleinen Säle des Quartier Latin verbracht hat, denn man spürt förmlich, daß hier jemand in der Welt der Filme lebt und nicht mit Videosequenzen arbeitet. Andererseits ist der analytische Blick immer auf die Tiefenstruktur des signifikanten Geflechts eingestellt und bleibt nicht an der Oberfläche des filmisch Erzählten stehen. Deleuze interessiert das Kino als Maschine der Sinnproduktion, als Wunsch-Maschine, die in den Denk-Bildern als kleinsten Einheiten der filmischen Narration durch Bewegung und Zeit die Intensität des Wunsches erzeugt.

In diesem Sinne verstehen sich auch die beiden Oberbegriffe der deleuzianischen Film-Bild-Theorie, nämlich das Bewegungs- und das Zeitbild. Es ist viel geschrieben worden über diese Differenzierung, die Deleuze mit Hilfe philosophischer Kategorien vor allem Henri Bergsons formuliert. Die Monographie von Mirjam Schaub über Deleuzes Kino-Theorie findet für diesen Gegensatz eine gelungene Übersetzung. Sie spricht von der „falschen Natürlichkeit“ des Bewegungs-Bildes und der „natürlichen Falschheit“ des Zeit-Bildes. Was heißt das?

Zunächst muß festgestellt werden, daß die Umgangsweise von Deleuze mit Bergson den Leser einer Irritation aussetzt. Wer sich in den Schriften des französischen Lebensphilosophen auskennt, wird dort immer wieder auf eine vehemente Ablehnung der modernen visuellen Medien wie Photographie und Film stoßen Der von Bergson entwickelte Gegensatz einer temps duré und einer temps passé kritisiert zunächst an den philosophischen Traditionen der Moderne, dann aber auch an den genannten Medien die Unfähigkeit, Zeit als Dauer, d. h. als ununterbrochene Intensität zu begreifen. Film und Photographie sind ihm gerade beste Beispiele, wie der Zeitstrom unterbrochen und zerstückelt wird, um nachträglich eine falsche Zeit des abgelebten, uniformen ready mades darzustellen. Deleuze dreht, wie Schaub in einer gekonnten Rekapitulation der Argumentation zeigt, dieses Verhältnis der Bewegung stillgestellter Bilder um und zeigt, daß jede Bewegung auf „beweglichen Schnitten“ und die Wahrnehmung von Bewegung auf „Montage“ beruht. Die Illusion stammt nicht daher, daß dem Bild Bewegung addiert wird, sondern die Bewegung als Diskontinuität stellt überhaupt eine „natürliche Falschheit“ dar, einen Wechsel in der Dauer, einen Schnitt oder eine Verlagerung im Raum und damit einen qualitativen Sprung.

Mirjam Schaub leitet diese zentrale Figur der „natürlichen Falschheit“ vor dem Hintergrund der im Werk von Deleuze schon früher geführten Diskussion über das Simulacrum bei Platon, Epikur, Lukrez oder Klossowski und die „Logik der Sensation“ im Medium der Malerei bei Francis Bacon. Ihre fundamentalen Kenntnisse hat Schaub schon in der Parallelpublikation über „Gilles Deleuze im Wunderland: Zeit- als Ereignisphilosophie“ (Fink Verlag, München 2003) unter Beweis gestellt, in der es speziell um das Verhältnis von Zeit und Werden, also um den Gegensatz einer chronologischen und einer äonisch-intensiven Zeitlichkeit geht. In bezug auf das Film-Bild kommt dann eher der Gegensatz von Sichtbarem und Sagbarem zum tragen, der deutlich macht, daß es Deleuze ganz speziell um das virtuelle Potential der Bilder geht. Diese entfaltet sich im Bewegungs-Bild als Intervall wischen den Bildern, aber Deleuze stößt damit – wie Schaub kongenial konkretisiert – an eine Grenze, die ihn auf die interne Voraussetzungslogik der Bilder zurückverweist. Hier ergibt sich die Notwendigkeit des zweiten Kinobuches und die Entwicklung des Begriffs vom Zeit-Bild, das ganz dem Werden der Zeit überantwortet ist und damit dem genannten qualitativen Sprung, der filmisch in falschen Anschlüssen und abweichenden Bewegungen zum Ausdruck kommt.

Schaub geht den verschiedenen Beispielen nach, wie in Filmen als Inszenierungen von Aktualisierung diese selbst als Zeitprozeß thematisiert werden. Sie diskutiert die Bilder für die Bilder, vor allem das Bild vom „Zeitkristall“, die filmischen Beispiele von Welles, Resnais oder Robbe-Grillet werden ebenso analysiert wie die Rezeption des Ansatzes von Deleuze etwa hinsichtlich einer Theorie des Fernsehens. Das Buch gipfelt gewissermaßen in Überlegungen zu den Impulsen, die eine Philosophie des Bildes daraus empfangen kann, und dem Ausblick auf eine neue Ära des Hollywoodkinos als Medium des „profanisierten Glaubens“ (etwa am Beispiel „Matrix“). Es wären noch viele andere Aspekte dieser reichhaltigen Untersuchung zu nennen, aber auch so ist hoffentlich deutlich geworden, daß es sich hier um das mit Abstand beste Buch handelt, das im deutschsprachigen Raum gegenwärtig zur Film-Theorie von Deleuze auf dem Markt ist.

Mirjam Schaub
Gilles Deleuze im Kino
Das Sichtbare und das Sagbare
München: Fink 2003
311 Seiten (Paperback)
37,90 Euro

Michael Wetzel

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