„500kg/m² oder 8t pro Fahrzeug“, so steht es an der Wand einer Lagerhalle, die Frau Moll bewacht. Gäbe es ein Maß für seelische Belastbarkeit, würde es sicher in Royblacks gemessen. Dessen 65er-Schlager Du bist nicht allein steht in dem gleichnamigen Film von Bernd Böhlich für die unerfüllte Sehnsucht der Zukurzgekommenen, der wirtschaftlich Gescheiterten im deutschen Euphoriesommer 2006.
Hans Moll ist einer von denen. Arbeitslos, chancenlos, frustriert. Sein Garten: ein winziger Balkon mit Geranien und Jägerzaunimitat in Ostberlin. Als in die Plattenbauwohnung nebenan die hübsche Jewgenia einzieht, erwacht er aus seiner Lethargie. Jewgenias Geburtstag wird natürlich gefeiert und als die lebens- und intonationsfreudige russische Verwandt- schaft Hans ebenso charmant wie nach- drücklich auffordert ein Lied beizusteuern, entdeckt er die Kraft, die darin steckt, einfach mal lauthals loszusingen. Wie Axel Prahl dieses „Du bist nicht allein“ rausschnulzt, zuerst ganz schüchtern, verzagt, schließlich regelrecht überwältigt von sich selbst, das ist, wie immer bei diesem Schauspieler, ergreifend authentisch. Selbstbewusstsein und Zuversicht kommen Hans beim Tun und damit auch seine Gefühle für Jewgenia. Am Ende tanzen sie eng umschlungen. Eine ungleiche Balz, mit solcher Schwermut beladen, wie man sie sonst nur bei Fassbinder findet.
Die Nähe der Beiden könnte entfernter kaum sein, denn Hans will Jewgenia, aber die will nur ein neues Leben in Deutschland. Davon hat Hans längst genug. In die Sympathie zwischen den beiden mischt sich mehr und mehr Verzweiflung. Gegessen wird zu Hause und so drängt die familiäre Tristesse Hans wieder zurück in die Besänftigungsroutine seines Ehealltags. Ein Ausbrechen aus diesem Stillstandskreislauf erscheint von vorneherein zwecklos. Lieber schmeißt er, vom Stumpfsinn angeödet, den Fernseher aus dem Fenster. Es folgt eine der schönsten Szenen: ohne ein Wort, als sei nichts geschehen, bleiben Hans und ´Svennie´, sein Sohn, auf der Wohnzimmercouch sitzen und glotzen apathisch weiter – nun eben in das Loch im Schrank.
Mit ausgezeichnetem Gespür für den tragikomischen Blick seziert Böhlich seine Charak- tere inmitten ihrer Eiche-rustikal-Landschaften. Er zeigt das Deprimierte, aber auch die gleichmütige Gelassenheit mit der die Menschen ihrem Schicksal gegenüber stehen. Wie sie ertragen und nicht locker lassen. Wie sie sich selbst eine Schwarzwaldtapete auf die Balkonwand malen, weil sie das schön finden und sich Urlaub nicht leisten können. Dass Böhlich dabei nie in verklärende Sozialromantik verfällt, dass seine Helden trotz ihrer Unzulänglichkeit eine fast wohltuende Würde behalten ist die Stärke des Films. Diese ansteckende Sympathie für die Niemande und Underdogs kennt man sonst nur aus dem New British Cinema.
Allerdings: so wie die Molls sich schon lange in ihrer Realität eingerichtet haben, so betäubt sind andere. Zum Beispiel der Physiker (Herbert Knaup), erst seit kurzem arbeitslos, Spezialgebiet Festkörper. Er stellt diesen anderen Verzweiflungstypus dar, den homo faber, der sich in der Hartz-IV- Realität nur noch auf die inneren Rettungs- vorgänge, auf ein irgendwie Funktionieren beschränkt. Beim Arbeitsamt will man ihm mit bürokratischer Selbstverständlichkeit einen 1-Euro vermitteln. Völlig entgeistert rastet er aus. Seine Ex-Geliebte (Karoline Eichhorn) ist da schon weiter. Die ehemalige Schauspielerin synchronisiert für Kleckerbeträge Softpornos. Obwohl von einander getrennt lebt auch dieses Paar Tür an Tür, obwohl in Sichtweite ist hier jeder in seinen inneren Netzen und Verpuppungen gefangen. Längst erreicht das eigene Begehren den anderen nicht mehr. Unter dem Druck der Arbeitslosigkeit, der quälenden Leere des Nichtstuns, lösen sich ihre Körper mehr und mehr auf. Er beginnt wieder zu trinken, sie erscheint in grotesker Verkleidung zu einem Casting für die Rolle einer Fettleibigen. Böhlichs Figuren balancieren ständig zwischen Aufblähen und Zusammenfallen, üben sich in den Verrenkungen des Größermachens und Kapitulierens. „Wenn ihre Sehnsucht Gewicht hätte“, dichtete Benn einst, „wöge jede drei Zentner“.
Die Schwere der Lebensumstände, die der Film schildert, korrespondiert dabei mit der Leichtigkeit, dem richtigen Gespür für die Distanz der Kamera. Derart einfühlsam beobachten wir Frau Moll (die wunderbare Katharina Thalbach) in dem Moment, als ein Monteur das Geheimnis ihres neuen Jobs als Wachschutzangestellte, auf den sie so stolz ist, lüftet. In der von ihr mit viel Aufwand bewachten Lagerhalle lagert nichts als: Luft. Jeder Kubikzentimeter verhöhnt ihre tagtägliche Arbeit als reines Beschäftigungsplacebo. Und der Monteur seinerseits überprüft nur die Ventile, die die Luft einlassen – ins Märchenschloss Deutschland.
Du bist nicht allein
(Deutschland, 2007)
Regie: Bernd Böhlich, Kamera: Thomas Plenert, Musik: Jakob Ilja, Schnitt: Karola Mittelstädt
Darsteller: Axel Prahl, Katharina Thalbach, Katerina Medvedeva, Herbert Knaup, Karoline Eichhorn, Mathieu Carrière, Dominique Horwitz, u.a.
Verleih: Neue Visionen Filmverleih
Länge: 90 min
Kinostart: 19. Juli 2007