Kino, Lust und Leidenschaft

Februar in Berlin, Berlinale. Man wühlt sich durch Programmhefte, streicht an, notiert, wägt ab. Lieber um 12 Uhr den Film im Cinemaxx, dafür den um 13 Uhr im Arsenal sausen lassen? Und wann könnte ich den dann nachholen? Und auf was müsste ich nun dafür wieder verzichten? Und welche Filme kommen eh in zwei, drei Wochen, oder noch später, in die Kinos? Man erstellt Pläne, Tabellen, streicht widerwillig nur zu gerne Wahrgenommenes und disponiert um, steht Stunden lang in Schlangen an, muss dann an der Kasse doch wieder alles umschmeißen, weil das eine oder andere schon ausverkauft ist. Zwei Wochen lang läuft man nur mit einem Stapel Programmhefte unterm Arm durch die Stadt, rennt von Vorstellung zu Vorstellung, stets auf der Suche nach dem bestmöglichen Destillat aus der ungeheuren Angebotsfülle. Sozialer Kontakt zu nicht ganz so Filmbegeisterten wird zum Ding der Unmöglichkeit: die Erschaffung eines Mikrokosmos! Planet Potsdamer Platz mit den Trabanten am Zoo und am Friedrichshain, Haupstadt: Berlinale-Palast. Danach lehnt man sich erschöpft zurück, ist zwischen zehn und 50 Filmerfahrungen reicher (manche davon schon wieder am verblassen) und zwar irgendwie froh, dabei gewesen zu sein, aber eigentlich doch auch recht erleichtert, dass es das dann nun fürs Erste gewesen ist. Berlinale ist eine zweiwöchige, lustvolle Durchmilitarisierung des Alltages im Namen des Films, besser noch: der Filmleidenschaft.

In New York aber, da herrscht immer Berlinale. Dutzende von Kinematheken, Programmkinos, Undergroundkinos und ein steter Overkill an Festivals lassen einen, theoretisch, den Berlinalezustand das ganze Jahr, rund um die Uhr, ein Leben lang aufrecht erhalten. Und eine Handvoll Kinofanatiker – selten passt der Begriff besser – hat sich in der Tat genau dem verschrieben. Ihre Liebe gilt dem Kino und, das ist jetzt nicht nur bloße Rethorik, nichts anderem. In CINEMANIA begleiten wir sie eine Weile, lernen ihre Marotten, Ticks und Vorlieben – jeder hat so seine ganz eigenen Steckenpferde in der Welt des Films – kennen.

Zunächst das Einende: Täglich hetzten sie ab dem frühen Morgen durch die Stadt, durch den öffentlichen Personennahverkehr, von einer Vorstellung zur nächsten, sammeln Programmhefte und werten diese mühevoll aus. Eine akribische Kleinarbeit, die höchstes Organisationsgeschick verlangt. Soziale Kontakte pflegen sie kaum, schon zeitlich wäre das ja kaum möglich, dafür aber kennen sie sich untereinander ein wenig, auch wenn sich „filmbuffs“, wie man erfährt, nicht treffen, um zusammen Partys zu feiern, nein, sie gehen zusammen ins Kino und das ist, in der Regel, selbst zweisam eine recht einsame Angelegenheit, zumindest aber unkommunikativ. Ab und an trifft man sich auch ganz einfach so im Saal, oder im Foyer, wenn man sich quasi gerade ablöst im Kino. Über die Fragen nach dem jüngst Gesehenen, dem für den weiteren Tagesverlauf Geplanten kommen die Gespräche kaum hinaus, schon allein deswegen nicht, weil man sich bereits den nächsten Platz sichern muss. Allesamt leben sie in ärmlichen Verhältnissen: kleine Wohnungen, Sozialhilfebezug, stellenweise verwahrlostes Äußeres.

Trotzdem gleichen sie sich, in der Detailaufnahme, nur wenig. Die greise Roberta, kinosüchtig seit 1950, mag vor allem das Melodrama, ist aber auch dem Dokumentarfilm augenscheinlich nicht abgeneigt. Gerne streitet sie sich auch, zum Beispiel mit der Kartenabreißerin, denn Roberta bewahrt alle Kinokarten auf, das wird dann auch mal rabiat, gelegentlich. Überhaupt das Sammeln: ihre Wohnung – räumungsgefährdet, das am Rande – quillt über von Filmdevotionalien, Programmheften (alle in mehrfacher Ausführung), Promotionmaterial und allerlei (Film-)Tand – genug also, um ein kleines Museum zu füllen! Gerne würde man, selbst ja Filmbegeisterter, darin mal stöbern. Jack Angstreich ist wohl der typischste New Yorker im Quintett, typisch vor allem dann, wenn man New York mit Woody Allen im Hinterkopf denkt. Dessen Humor gleicht Jacks dann doch frappant, wenn er im Verlauf der Doku für kurzweilige Selbstreflexionen sorgt. Etwa wenn er davon erzählt, dass sein Sexleben vor allem deswegen so verkümmert sei, weil er sich nicht Sex mit der Person Rita Haysworth ersehne, sondern wenn dann schon gleich mit Orson Welles‘ Schwarzweißinszenierung von derselben. Dann beschreibt er nicht nur recht genau das baudrillard’sche Simulakrum, er hat auch die Lacher auf seiner Seite. Ein Mensch, mit dem man eigentlich doch recht gerne mal ins Kino gehen, sich zumindest aber über’s Kino unterhalten möchte. Bill hingegen, wie Jack ebenfalls noch recht jung, wirkt wie ein hoffnungsloser Fall für die geschlossene Anstalt: seine Liebe gilt vor allem dem europäischen Autorenkino, besonders der französischen „nouvelle vague“ hat er sich verschrieben. Er ist ganz Nerd: Brille, etwas kränkelnd, Erdnussbutterbrot in der Tupperware. Fürs Kino hat er Rheumadecken dabei, sowie Tabletten gegen Rückenschmerzen und Schnupfen, zum Schlafen benötigt er abends Pillen, zum Aufstehen frühmorgens ebenso. Er wirkt fahrig, sozial vollkommen unfähig, blickt den Gesprächspartner nicht an, ist zwar nicht unbedingt wortkarg, dennoch aber autistisch verschlossen. Zwanghaft und wie auswendig gelernt muten seine Liebesbekenntnisse an. Ebenfalls meist neben sich steht Harvey, jedoch auf liebenswerte, schrullige Art. Er kuckt, so die anderen im Bunde, „selbst den größten Dreck“ und kann dem dann auch noch etwas abgewinnen, selbst dem beknacktesten Exploitationfilm, weswegen man sich auf seine Filmtipps kaum verlassen könne. „Der findet alles gut“, meint Jack. Außerdem stoppt er die Laufzeiten sämtlicher Filme, kann die bereits gesehener Filme aus dem Stegreif nennen und weist das Kinopersonal gerne mal auf falsche Angaben im Programmheft hin. Diebisch freut er sich, wenn er das Personal in einem Multiplexkino austricksen und sich drei Filme zum Preis von einem ansehen konnte. Eric schließlich, von dem wir im Film am wenigsten erfahren, ist der Älteste unter den Portraitierten und liebt vor allem Unterhaltungskino, Komödien und Musicals aus den USA haben es ihm dabei besonders angetan. Mit europäischem Autorenkino kennt er sich zwar gut genug aus, um sich eine Meinung bilden zu können, weist es aber dennoch nahezu apodiktisch von sich. „Never liked Antontioni“ und „Never been into Resnais“ – kurz und prägnant.

Fünf eigene Welten also, lose über die Leidenschaft miteinander verbunden. Vor allem aber fünf Individualisten mit ganz ausgeprägten Eigenarten, die der Film, trotz aller Lacher und befremdetem Kopfschütteln seitens der Zuschauer, niemals der Lächerlichkeit preisgibt. Auch wird nicht versucht, pädagogisch eine „Kulturkrankheit“ zu analysieren oder Ursachenforschung zu betreiben. CINEMANIA schaut einfach zu, filmt ab, was passiert, portraitiert. Kritisch unter die Lupe genommen oder gar abgewertet werden die fünf Seelen nicht, dafür nehmen die Filmemacher sie viel zu ernst, dafür zeigt man viel zu viel Verständnis für die Passion und die glühende Aufopferungsbereitschaft, mit der die fünf diese verfolgen. Ganz im Gegenteil, an manchen Stellen möchte man sie sogar fast – aber eben doch nur fast – beneiden, wenn sie etwa von ihren wundervollen Erinnerungen schwärmen, oder wenn die Liebe, mit der sie ins Kino gehen und sie Filme förmlich in sich aufsaugen lässt, nachvollziehbar vermittelt wird. Dann sind das nicht etwa die kranken Menschen, für die viele Zeitgenossen sie vielleicht vorschnell abstempeln, dann sind das lediglich Opfer einer Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft, die dieses Leben für die Leidenschaft eigentlich so nicht miteingeplant hat. Deutlich wird dies zum Beispiel, wenn Jack, dessen frühere Klassenkämpfermentalität man hier und da mal aufblitzen sieht, sich darüber moniert, dass die Psychologie visuelle Erfahrungen bis heute nicht als vollwertige anerkennt, sie vielmehr, zumindest im zwanghaften Ausmaß, als verzweifelte Kompensation für authentische wertet – reine Ideologie, wie er meint. Und wer hat schließlich festgelegt, dass ein Leben für die Karriere, ein Leben für den Job oder ein Leben für die Familie das eigentlich Gesunde, Normale, Erstrebenswerte sei? Unglücklich wirkt, vielleicht mit Ausnahme von Bill, der verzweifelt eine „Bürgerin der europäischen Union“ zur Heirat zwecks gemeinsamer Kinobesuche sucht, keiner der dokumentierten Cineasten.

CINEMANIA ist, eigentlich, ein Film über jene Art von Liebe, die den Liebenden mit Haut und Haaren verschlingt, ihn sich verzehren lässt. Romantik also, in ihrer Urform.

Cinemania
Deutschland/USA 2003
Regie & Schnitt: Angela Christlieb, Stephen Kijak; Kamera: Angela Christlieb
Darsteller: Jack Angstreich, Eric Chadbourne, Bill Heidbreder, Roberta Hill, Harvey Schwartz, Richard Aidala, u.a.

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