Nur ein kurzer Moment in einer deutschen Großstadt. Zwei Gesichter rasen an einander vorbei, der Himmel ist für sie geteilt. Ihr Blick, traurig und verloren, bleibt am Fenster hängen, wird zurück geworfen. Eine Begegnung, die keine ist.
Yeter, die türkische Prostituierte, sitzt in der Bahn, während ihre Tochter Ayten im Auto auf der anderen Seite der Straße vorbei fährt. Verzweifelt sucht sie die Mutter, die in Deutschland das Geld für Aytens Studium in Istanbul verdient. Es wird das letzte Mal sein, dass die beiden sich so nah sind.
So wie in diesem wunderbaren Bild der Verfehlung zeigt Regisseur Fatih Akin, nach den turbulenten Kabalen aus „Gegen die Wand“, in seinem neuen Film ganz unangestrengt und voller Melancholie den Zusammenstoß zweier Leben, zweier Kulturen im Spannungsfeld zwischen den Generationen. Er beobachtet mit sehr präzisem Blick das quälende Schicksal seiner Figuren, die zerrissen sind und sich zerreißen in ihrem Aufbäumen gegen das Unvermeidliche. Immer ist es erst der Tod, der die fest gewordenen Charaktere öffnet – für andere und für sich selbst. Erst der Verlust ermöglicht ihnen wirkliche Liebe und löst einen Fluchtreflex aus, der zum Neubeginn führt.
Es ist schon erstaunlich, wie Akin es in diesem zweiten Teil seiner Trilogie zu Liebe, Tod und Teufel schafft einen neuen Ton zu treffen. Auf einer Ebene unterhalb der Sprache, tief empfunden von denen, die Betroffene ihres Sprachverlusts sind, erweitert er das spirituelle Spektrum seiner Filme und lässt genügend Raum für die dramatischen Zwischentöne, die man oft eben nicht hören kann, die einfach dem Sprachverlust zwischen Eltern und ihren Kindern zum Opfer fallen.
Zwar mag der sensible, stets ein wenig verloren wirkende Nejat, der als Professor für Germanistik an einer deutschen Uni lehrt, gerne Goethe zitieren, doch die Gespräche mit seinem verwitweten Vater Ali bleiben merkwürdig verklemmt. Beide umgibt die Distanz völlig unterschiedlicher Mentalitäten. Ali macht sich wenig aus Büchern, dafür umso mehr aus selbstgezogenen Tomaten und Frauen. Von seiner kargen Rente heuert er Yeter als Haus- und Liebesdame an. Als die, drangsaliert und gedemütigt, vor dem Alten fliehen will, hat Alis patriarchalisches Gehabe einen tödlichen Unfall zur Folge. Nejat bricht daraufhin endgültig mit dem Vater und flieht seinerseits in die Türkei. Mit ihm fliegt der erste Sarg.
Ein Zweiter wird wenig später folgen, diesmal in die andere Richtung, von der Türkei nach Deutschland. Die wechselseitige Verschickung der Toten in ihre jeweilige Heimat wirkt in dieser doppelten Flughafenszene wie der Gabentausch in einem Streithandel zwischen Ich und Anderem. Und die beiden Särge erscheinen als ein letzter Rest an Wahrheit, der von der Sprache und ihren Übersetzungen nicht aufgehoben werden kann.
Raffiniert spiegelt der Film die Bilder in einer wiederkehrenden Schleife der Räume und Motive, und setzt sie so zusammen, dass nur wenige Einstellungen das Gewand der Geschichte wie wertvolle Fibeln zusammen halten. Zugleich verwebt er die Einzelschicksale zu einem einzigen, großen Komplex von zerfallenden und neu geschaffenen Einheiten. Je größer die Leidenschaft des Fabulierens, je deutlicher die Sprache, desto mehr gewinnt auch die Verstörung.
Das Herausfordernde, Ekstatische mit dem Akin noch sein ebenso liebestolles wie lebensmüdes Pärchen „Gegen die Wand“ fahren ließ, ist in „Auf der anderen Seite“ einer behutsamen Entdeckung seiner Protagonisten gewichen. Und obwohl es sich im Grunde um eine Art Episodenfilm handelt, Orte und Personen also häufig wechseln, bleibt dem Zuschauer doch genug Zeit sich der Erzählung anzuvertrauen. Nicht wenig liegt dies auch an einem herausragenden Darstellerensemble, allen voran Tuncel Kurtiz und Hannah Schygulla, die den Film als äußerst vitale Reminiszenzen an das deutsche bzw. türkische Autorenkino bereichern. Wie Schygulla die von ihrer Trauer und ihrem Schmerz überwältigte Susanne spielt, das ist so berührend, so empathisch und unverstellt, das es etwas von der Wucht des Dogma-Kinos hat.
„Auf der anderen Seite“ ist auch deshalb ein bemerkenswertes Stück Kino, weil es aus einem Bestand universeller Gefuehle schöpft, die völlig unabhängig von Nationalität und Kultur verstanden werden. Denn die uralte Spirale aus eifernder Lust, Zerstörung und Vergebung kann sich nur drehen, wenn von Anfang an ein bisschen Hoffnung mitflackert. Das ist poetisch und hoch politisch zugleich.
Akin, der, wie er selbst von sich sagt, je nach Stimmung und Umfeld zwischen den Identitäten als deutscher Tuerke und als türkischstämmiger Deutscher „switcht“, besitzt ein feines Gespür für die Gräben und Abgründe der Multikulturalität, und er weiss sehr genau, wie man dem Kino eine europäische, zumindest aber eine transkulturelle Dimension gibt – indem er gar nicht erst versucht das Kulturelle, oder das Nationale zu definieren, sondern schlicht Menschen zeigt, die beeinflusst sind von ihrer Lebenswirklichkeit.
Menschen wie Nejat, der schließlich, am Ende seiner Reise, der Vergangenheit den Rücken zuwendet. Aus seinem Blick, der aufs Schwarze Meer hinaus schweift, spricht mit einem Mal wieder: Zuversicht. An diesem Ort beginnt der Film, und hier endet er auch. Man darf also gespannt sein, was es im dritten Teil von Akins Trilogie mit dem Teufel auf sich hat. Denn der wird mit ziemlicher Sicherheit aussehen wie einer von uns.
Auf der anderen Seite
(Deutschland/Türkei 2007)
Regie & Buch: Faith Akin; Musik: Shantel; Kamera: Rainer Klausmann; Schnitt: Andrew Bird
Darsteller: Nurgul Yesilcay, , Baki Davrak, Tuncel Kurtiz, Hanna Schygulla, Patrycia Ziolkowska, Nursel Koese u.a.
Länge: 122 Minuten
Verleih: Pandora