Ein neuer Sammelband zeigt die Aktualität von Walter Benjamins Medientheorie
Flanieren heute? Das ist als Wahrnehmungsmodus inzwischen reichlich verstaubt. Dem verlinkten Herumstöbern im virtuellen Raum scheint der authentische Blick auf das Material der urbanen Lebensformen endgültig gewichen zu sein. Kein Wunder, denn für gewöhnlich schwappt die große Gleichförmigkeit aus den popkulturellen Verkehrsströmen der Warenwelt. Wobei sich Produktion und Rezeption von Sinneseindrücken im industriellen Tempo abwechseln – um uns jene Bilderfluten zu hinterlassen, wie sie alltäglich und myriadenfach im universalen Netzwerk des Cyberspace aufschäumen. In der virtuellen Realität ist nahezu alles und jederzeit verfügbar – und ebenso austauschbar. Wahrnehmung mutiert so zur Verlusterfahrung.
Ähnlich könnte Walter Benjamin zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts den Aufschwung der Massenmedien erfahren haben. Verbunden damit: die Defizienzerfahrung der Moderne, repräsentiert von der Schockwirkung, die die technischen Medien im Betrachter hervorrufen. Fasziniert von der Wirklichkeits(re)produktion im Film stilisierte Benjamin die kinematografische Darstellung zum „Dynamit der Zehntelsekunden“.
Hellsichtig erkannte er, dass mit dem Film ein neues Sehen aufkam, dem der Sprengstoff politisch-sozialer Utopie inne wohnte. Vermochte doch die Kinorealität, schillernd fern und vertraut zugleich, den Neugierigen aus der Enge bürgerlicher Wohnstuben zu befreien. So korrespondierte das gesellschaftskritische Potential des Films mit Benjamins konsequenter Auffassung der Ästhetik als Theorie der Wahrnehmung. Diese findet sich in zahlreichen seiner Schriften verstreut und spiegelt aufgrund ihrer literarischen Heterogenität die historische Entwicklung der Massenmedien geradezu seismografisch wieder.
Dass Benjamin, der technische Medien vor allem als gesellschaftliche Vermittlungsinstanzen begriff, auch nach der Digitalisierung ihrer ästhetischen Darstellungsformen einen gewichtigen Beitrag zum aktuellen medienwissenschaftlichen Diskurs beitragen kann, dokumentiert der kürzlich in der UVK Verlagsgesellschaft erschienene Sammelband „Walter Benjamins Medientheorie“. Der von Christian Schulte herausgegebene Band kann dabei als erkenntniskritischer Anschluss an Detlev Schöttkers erstmals geleistete Edition von Benjamins „Medienästhetischen Schriften“ gesehen werden. Denn Benjamin selbst hatte die systematische Erfassung einer Medientheorie als solcher überhaupt nicht im Sinn. Ihm ging es lediglich um die genaue Beobachtung zeitgenössischer Vermittlungsphänomene und ihrer Bedingungen.
Er, der mit dem Fragment gebliebenen Passagen-Werk zur posthumen Symbolfigur des (literarischen) Flaneurs wurde, rekonstruiert seine Gegenwart formalästhetisch als Bild-Collage, mit dem Blick für das „Gespinst aus Zeit und Raum“. Die Passage wird dabei zur Chiffre für das Medium als den Ort historischer Erfahrung, ihre Figuration ist das „dialektische Bild“. Wie Timo Skandries in seinem Artikel aufzeigt, handelt es sich um eine erkenntniskritische Figur, die einen „synthetischen Augenblick der Wahrnehmung“, in dem Vergangenes und Gegenwärtiges fruchtbar transzendiert, darstellt. In dieser „Dialektik des Sehens“ (Susan Buck-Morrs) liegt das hermeneutische Potential, das Benjamins medientheoretisches Denken dem wissenschaftlichen Diskurs heute eröffnen kann.
Im Mittelpunkt des Bands steht jedoch Benjamins These vom Verfall der Aura und der sich daraus ergebenden medienarchäologischen Perspektive. So präsentiert Burkhardt Lindner in seinem einleitenden Essay Benjamin als jemanden, der jenseits jeglichen wissenschaftlichen Schematismus´ und fernab von methodologischer Orthodoxie einer Disziplin die Inkunabeln vorlegte – ohne selbst irgend eine Vorstellung vom später entstehenden Fach ´Medienwissenschaft´ haben zu können.
Umso aufschlussreicher muss Lindners Kontrastierung der Prophetien eines ihrer prominentesten Vertreter, Marshall McLuhan, mit den präliminaren Thesen Benjamins ausfallen. Glorifiziert McLuhan nämlich mit seinem pseudo-religiösen Diktum vom Ende der Gutenberg-Galaxis, den Siegeszug der elektronischen Digitalisierung als Abgesang auf das humanistische Medium der Schrift, so legt Benjamin dagegen das Augenmerk eben nicht auf die Veränderung des Mediums an sich, sondern auf die Veränderung seiner visuellen Wahrnehmung.
Die Kritik an McLuhans Axiom ist ebenso einfach wie fundamental: Zwar wird die Produktion der medialen Zeichen durch den digitalen Code größtmöglich (nämlich auf die Binärstruktur) entdifferenziert. Entscheidend bleibt aber, dessen Rückübersetzung in (audio-)visuell wahrnehmbare Repräsentationen. Und genau hier, im Bereich der optischen und taktilen Rezeption verortet Benjamin seine medientheoretischen Diagnosen in historisch-phänomenologischer und keinesfalls in teleologischer Perspektive. Mit Benjamin lesen wir die digitale Revolution also nicht als Auflösung, sondern lediglich als organische Transformation eines medialen Systems.
Nur aus diesem Verständnis ergibt sich auch Benjamins Begriff der Wahrnehmungskrise. Denn die technische Reproduzierbarkeit der Medien, wie sie seit der Einführung der Fotografie immer effizienter in Erscheinung tritt, bedingt vor allem eins: die kulturelle Erosion der individuellen Wahrnehmbarkeit. Das Symptom der „Erfahrungsarmut“ (wie Benjamin einen diesbezüglichen Entwurf von 1932 schlicht betitelt) resultiert dabei aus dem extremen Ungleichgewicht zwischen der hyperinflationären, technisch-medialen Vereinnahmung und dem apperzeptiven Vermögen des menschlichen ´Empfängers´. Ein reduziertes, weil überlastetes Vermögen, das nur noch durch „Chocks“ aufnahmefähig ist, wie es im berühmten Kunstwerk-Aufsatz heißt.
Wenn nun Klaus Kreimeier Benjamins zeitgenössische Diagnose auf ihre Plausibilität in der Sphäre heutiger Medien hin prüft, so gelangt er dabei zu einer ebenso überraschenden wie offenkundigen Feststellung. Demnach ist gerade der Kunstwerk-Aufsatz nun nicht mehr als Filmtheorie, sondern als Theorie des diversifizierten Fernsehens zu lesen. Der Gestus des Fernsehens ist es nämlich, der heute jene schockhafte Realität vermittelt, wie sie einst dem Kino vorbehalten war. Exemplarisch wird das am Begriff des auratischen Kunstwerks als Medium und seiner „taktilen Rezeption“, die immer zwischen Versenkung und Ablenkung, zwischen „angespannten Aufmerken“ und „beiläufigen Bemerken“ zirkuliert.
Der Zuschauer, fordert Benjamin, solle seinerseits zum zerstreuten „Examinator“ werden. Je tiefer die technische Apparatur „chirurgisch“ in die Wirklichkeit eindringt, sie zurecht schneidet und montiert, desto dringlicher wird die Emanzipation des Betrachters in der testenden Reaktion seines diagnostischen Blicks – freilich eine politisch-soziale Illusion. Hier zeigt sich der Einfluss des historischen Materialismus auf Benjamins medientheoretische Konzeption. Demnach darf nicht der Apparat den Zuschauer dressieren, sondern die Technifizierung des Medialen soll dem Publikum die Möglichkeit geben, mit Hilfe der Technik die jeweiligen Lebensbedingungen zu seinen Gunsten zu verändern. Bekanntlich ist es anders gekommen.
Zwar verweist Kreimeier darauf, dass das Fernseh-Dispositiv als Diskursmaschine der skeptischen Rezeption des Zuschauers zu betrachten ist. Schließlich ist nichts demokratischer als die Fernbedienung mit der jeder das Programm testen und per Knopfdruck darüber abstimmen kann. Doch zum Souverän des Mediums ist weder das Kino- noch das Fernseh-Publikum geworden. Eher ist es so, dass sich die Wirklichkeit immer dringender den Gesetzen ihrer medialen Vermarktung unterwirft. Symptomatisch hat sich dem entsprechend etwa das Erscheinungsbild des Berufspolitikers gewandelt, der sich hauptsächlich in Talk-Shows vermittelt. In diesem Sinne antizipierte Benjamin allerdings äußerst treffend: „Die Krise der Demokratie lässt sich als eine Krise der Ausstellungsbedingungen des politischen Menschen verstehen.“
Dass der Verlust der Aura, wie ihn Benjamin sah, nicht endgültig ist, zeigt Mika Elo. Er diagnostiziert die Wiederkehr der Aura und betreibt ihre Rettung für die Postmoderne indem er das Aura-Konzept topologisch liest. Nach der Ablösung des Originals durch die technische Reproduktion kann Aura in diesem Kontext nur mehr als virtuelle Realität erscheinen. Die dekonstruktivistische Volte besteht darin, Aura lediglich als Spur zu denken, als nicht wahrnehmbarer Zwischenraum in der technischen Reproduktion. Eine solche über sich selbst hinausweisende Größe, deren Verfall eigentlich ein Sichtbarwerden ihrer eigenen Bedingtheit ist, nennt Elo mit einem Begriff Samuel Webers „Mediaura“. Er benennt nichts anderes als die Distanz zum verloren gegangenen Original, die einen indifferenten, mediauratischen Raum erzeugt, in dem sich das Fernsehen positioniert.
Kaum abzusehen sind die Folgen dieser medialen Transformation. Benjamins Verständnis der Aura als „Gespinst von Raum und Zeit“ degeneriert zu einer gespenstischen Zwischensphäre von Schein und Zeit, sobald der Ort des Ereignis vom Ort des Erlebnis getrennt ist. Genau diese raumzeitliche Getrenntheit aber bestimmt das Erfahrungsmoment der Postmoderne. Wo Benjamin auf seinen Streifzügen durch die Vielfalt der Pariser Quartiers noch mit kaleidoskopischem Blick flanieren ging, wird die virtuelle Wahrnehmung heute zur Binärerfahrung einer strukturell geteilten Erlebnissphäre. Mehr noch, die Differenz zwischen Wahrnehmung und Körperlichkeit, mithin also verifizierbarer Realität, ist so grundlegend geworden, dass etwa der französische Philosoph Jean Baudrillard die Inszenierung des medial vermittelten Weltgeschehens als „Farce“ beklagt. Er spricht von „Schurken-Ereignissen“, deren Schockwirkung darin besteht, dass sie jedweden geschichtlichen Zusammenhangs entbehren. Sobald jedoch die historische Signatur von Ereignissen der Wahrnehmung verschlossen bleibt, werden sie als „dialektisches Bild“ im Sinne auratischen Erkenntnisgewinns unbrauchbar.
Die derezitige Medienwissenschaft muss sich deshalb auch fragen, mit welchen kulturellen Utopien dem Prozess der medialen Marginalisierung der äußeren Wirklichkeit begegnet werden kann. Dabei ist die medienarchäologische Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Medientheorie fast obligatorisch, wie der Band eindrucksvoll aufzeigt.
Christian Schulte (Hrsg.):
Walter Benjamins Medientheorie
UVK Verlagsgesellschaft,
Konstanz, 2005,
266 Seiten (Paperback)
Preis: 19,90 Euro
Sehr gute Buchrezension,
da merkt man, dass der Herr Cöln sich bereits intensiv mit der Entstehung von Medientheorien im Allgemeinen und mit dem Werk Benjamins im Besonderen (bitte nicht gleich an Adorno denken, wenn von Allgemeinem/ Besonderem gesprochen wird!;o))auseinandergesetzt hat. Vor allem gefällt mir der Hinweis auf eine medienarchäologischen Perspektive fernab von McLuhan. Das ist sowohl neu für mich, als auch wohltuend.
Ich werde dann mal sofort in die UB laufen, um zu gucken, ob dass rezensierte Werk vorrätig ist. Ansonsten muss es unbedingt bestellt werden. (Aber da ja der ehemalige Siegener Professor Kreimeier ebenfalls als Autor in dem Buch vertreten ist, dürfte dies für die UB Siegen eine Selbstverständlichkeit sein.)
Danke für diese aufschlussreiche Rezension,
Miriam Frömel