Ich ist zwei andere

Die dissizioative Persönlichkeitsspaltung ist ein Topos des Thriller-Kinos, der in den vergangenen Jahren immer beliebter wurde. Nicht nur lassen sich mit der Hilfe dieses Krankheitsbildes besonders beunruhigende Plots und Wendungen konstruieren, auch scheint die Teilung einer Figur in mehrere andere ein besonders filmaffines Gestaltungsmittel zu sein, mit dem sich eine Brücke zwischen Figuren, Plot und Zuschauern schlagen lässt. Im koreanischen Kino ist diese Form der Film-Erfahrung besonders eindrücklich in Kim Ji-woons „A Tale of Two Sisters“ (2004) inszeniert worden. Der Film „Spider Forest“, seines Landsmannes Song Il-gon nutzt das Motiv nun für eine ebenso beunruhigende, jedoch weniger auf den Horror, denn auf eine moralische Frage abzielende Geschichte.

spider_forest.jpgSie erzählt von dem Fernsehregisseur Kang Min (hier bereits ein selbstreflexiver Hinweis), der jüngst verwitwet eine Frau kennenlernt, die ihn offensichtlich mit seinem Vorgesetzten betrügt. Er spioniert ihr nach, als sie sich mit seinem Nebenbuhler in einer einsamen Waldhütte im so genannten Spinnenwald zum Tete-a-tete trifft, überfällt beide, tötet den Mann mit 40 Stichen einer Handsichel und verletzt die Frau lebensgefährlich. Danach flüchtet er in den Wald, findet eine Höhle, an deren Ende ein Druchgang zu einem Straßentunnel ist. Völlig desorientiert wird er darin von einem Auto erfasst und mit einer lebensgefährlichen Kopfverletzung ins Krankenhaus gebracht. Hier beginnt seine Odysse jedoch erst, denn er hat keinerlei Erinnerung an den Vorfall und flieht aus dem Krankenhaus, um die Wahrheit zu finden. Von der Polizei als Hauptverdächtiger in jenem Mordfall verfolgt, sucht er den Wald ein weiteres Mal auf und beobachtet sich dort selbst, wie er die Hütte überfällt. Das war jedoch weder sein letzter Besuch dort noch die das Ende eines sich immer tiefer in die Irrealität schraubenden Selbstbeobachtungsprozesses, an dessen Ende die Frage nach Schuld und Selbsterkenntnis steht.

„Spider Forest“ ist beim ersten Betrachten scheinbar undurchdringlich. Dies liegt vor allem daran, dass der Film beständig suggeriert, ein „ganz normaler“ Krimi zu sein, man sich jedoch immer dann, wenn die Indizien am offensichtlichsten sind, in eine weitere Verschachtelung der Geschehnisse versetzt sieht. Bis zu drei Mal taucht der verwirrte Protagonist in einer Szene auf, wird zum Beobachter des Beobachters seiner Taten, versucht sich selbst daran zu hindern und ist schließlich selbst dafür verantwortlich, dass er verletzt wird und in diese Welt auch Trug und Selbstbezug gerät. Als wäre dieses Vexierspiel noch nicht genug, werden ihm Frauenfiguren an die Seite gestellt, die sich spiegelbildlich zueinander verhalten, ja zeitweise sogar die (moralische) Inversion zueinander darstellen. Überdies werden im Zuge des Selbsterkenntnisprozesses auch noch Anekdoten, Mythen und biografische Details aus der Vergangenheit ans Licht gebracht, die sich ebenfalls nicht als bloß erzählt, sondern in Interaktion mit der Gegenwart offenbaren.

„Spider Forest“ lebt von seiner Komplexität mehr als von der Frage, was nun die der Realität nächste „oberste Erzählschicht“ sein könnte. Allen voran sind für die Plausibilität dieser Geschichte die Darsteller verantwortlich, die den Figuren das nötige Quäntchen Unheimlichkeit verleihen – aber eben nie so viel, dass man sich als Zuschauer mit dem Verdacht der Irrealität eines Horrorfilms zurücklehnen könnte. Vielmehr leitet das Spiel der Hauptdarsteller (neben Kam Woo-seong sind dies vor allem die beiden weiblichen Darstellerinnen Jung Suh und Kynog-heon Kang) den Zuschauer immer wieder zurück in die eigentliche Thematik des Films, die sich um die Frage von Schuld und Selbstvergebung kreist. (Darin ist „Spider Forest“ dem jüngeren Kino David Lynchs wesentlich näher als anderen koreanischen Werken.) Die Komplexität der Erzählstruktur und Figuration vermag man bei der ersten Sichtung kaum zu fassen. „Spider Forest“ ist ein Film, den man sich daher durchaus mehrfach anschauen sollte und ein Film, den man sich aufgrund seiner cineastischen Qualität auch mehrfach anschauen kann.

Spider Forest
(Geomi sup, Süd Korea 2004)
Regie und Buch: Song Il-gon; Musik: Min-hwa Yun; Kamera: Cheol-ju Kim; Schnitt: Jae-geun Choi
Darsteller: Woo-seong Kam, Jung Suh, Kyeong-heon Kang, Hyeong-seong Jang, Byung-ho Son, Seung-kil Jeong u.a.
Länge: 113 Minuten
Verleih: e-m-s

Die DVD von e-m-s

Gelegentlich in den sehr dunklen Passagen zeigt die DVD-Veröffentlichung von „Spider Forest“ die Schwächen des Mediums: Die Konturen treten hervor, Treppcheneffekte zeigen sich und die Verläufe werden gröber. Dieser Effekt dürfte jedoch zumeist auf großen Bildschirmen bemekrbar sein; das übrige Bild besticht durch Farbsattheit und perfekte Schärfe.

Die Ausstattung der DVD im Einzelnen:

Bild: 1.85:1 (Widscreen anamorph)
Ton: DD 5.1 (deutsch), DD 5.1 (koreanisch)
Untertitel: deutsch
Extras: Behind the Scenes, Trailer, Teaser, 2 Musikvideos
FSK: ab 16 Jahren
Preis: 14,99 Euro

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