Auf der Suche nach der verlorenen Aura

Am Beginn von Werner Herzogs Werk steht einerseits die Perfektion und in ihr bereits der große Mangel. Neben den Kraftmeier und Körperbauer tritt der hochfahrende Selbstzerstörer. Weiters treten auf, die mythologischen Figuren Sisyphos und Ikarus, filmisch rekonfiguriert in Herakles (1962) und nahezu 40 Jahre später wieder aufgegriffen in Wings of Hope (dt.: Julianes Sturz in den Dschungel, 1999). In der Zwischenzeit vollzieht sich im Schaffen des Münchner Filmemachers eine künstlerische Entwicklung, der eine dezidierte Ethik innewohnt, welche ich die Ethik der Aura nennen möchte. Wesentlich ist ihr ein Ge- und Verborgen-Sein, das im Staunen über das Einzigartige der Erfahrung, der Erhabenheit eines numinosen Moments ins Offene drängt. Herzog sucht diesen Momenten, obschon ganz offensichtlich mit der Kamera, vielmehr noch mit seiner ganzen Physis, seinem Körper, ja, mit dem immensen Lebendgewicht seiner kinematografischen Biografie Gestalt zu geben. So soll die unnachgiebige Gewalt seines Blicks Unsichtbares in Erscheinung treten lassen.

herzogkinski.jpgNeben die überaus starke Werkpräsenz des Autors tritt dann äquivalent der dominante Einfluss des Dokumentarischen auf die Kunst seiner fiktionalen Entwürfe. Ablesbar insbesondere an jenen Spielfilmen, die seine intensive Zusammenarbeit mit Klaus Kinski belegen, wie etwa Aguirre, der Zorn Gottes (1972), Fitzcarraldo (1982) oder auch Cobra Verde (1987), und die Herzog unter teils extremen Bedingungen dem Urwald abtrotzt. Dieses gewollt entbehrungsreiche Bildschaffen ist gleichermaßen eine Kunst der dokumentarischen Grenzüberschreitung wie der existentiellen Transgression. Sie ist mit einem Wort: Lebenskunst. Eine permanente Selbst-Hervorbringung des Regisseurs im und durch das Medium Film.

Antrieb und Hauptmotiv seines Schaffens ist eine tiefgreifende aus der spirituellen Verlusterfahrung resultierende Verunsicherung: die Theodizee, die Herzog in der alltäglichen, schmerzhaften Diskrepanz zwischen individueller Hybris und kollektiver Weltzerstörung beobachtet. In Herakles sehen wir diesen lebensweltlich-metaphysischen Abgrund überdeutlich in Szene gesetzt: den banalen Anstrengungen des Körpersportlers werden in ironischer Kommentierung die Heldentaten der antiken Mythologie entgegengesetzt. Plakativ und ungeschönt entwickelt Herzog in den ersten Bildern einen anthropologischen Skeptizismus aus dem anklagend die Dialektik vom zwanghaften Bodybuilder als Hochleistungsmenschen tönt, der in narzisstischer Selbst-Ermächtigung sich selbst, oder vielmehr sein Selbst in einen perfekten Leib überformen will, während außerhalb des Fitnessstudios – seinerseits als eine Art pseudoreligiöser Sakralraum fungierend – die kulturelle Apokalypse unaufhaltsam voran schreitet.

herakles.jpgEs ist das fundamentale Unbehagen über den Menschen als Mangelwesen, das sich in seinem Erstlingswerk ausdrückt und von Herzog in einem Interview auf den Punkt gebracht wird: „Was mich filmisch antreibt, ist die Wut auf die Absurdität des Universums, auf die Unzulänglichkeit und den Mangel, der uns in die Wiege gelegt wurde“. Das moderne Subjekt ist seinem Verständnis nach in erster Linie defizitär, steht dem Leben gegenüber auf verlorenem Posten. Seine Figuren sind darum meist von Gott und von der Gesellschaft Verlassene. Oft ist ihr einziger Ausweg die Flucht in einen hermetischen Individualismus, der wiederum ihre Ich-Konsolidierung ins Irre-Werden und in den Wahnsinn übertreibt (wie es in seinem 1967 inszenierten, ersten Spielfilm Lebenszeichen dem aus dem Leben eremitierten Soldaten Stroszek geschieht). Vilém Flusser schreibt dazu in seiner Autobiografie von einer Über-Reaktion, die aus kultureller Entwurzelung hervorgeht. Ein zermürbendes Gefühl von Bodenlosigkeit, das schließlich mit dem philosophischen Konzept existentialistischen Titanentums kompensiert werden soll. So kann die individuelle Hybris als Über-Lebenskonzept dienen – und nicht zuletzt als soziales Fundament eines „statistisch asozialen Künstlertums“ (Gottfried Benn).

Schon Herakles bebildert eine beinahe schismatische Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Der Kurzfilm steht in seiner Motivanlage wie ein Nukleus des gesamten herzogschen Filmkosmos, gibt er doch die wesentlichen Elemente seines Schaffens beispielhaft wieder. Da ist zum Beispiel das unaufhörliche Scheitern des Menschen als Formgeber seiner Selbst, als Lebenskünstler, oder einfach: in der Anmaßung seiner Gottgleichheit. Die Kritik an der falsch verstandenen physischen Autopoetik des Bodybuilders, die Herzogs Debüt impliziert (und das deshalb Vergleichen mit Leni Riefenstahls kühl stilisierter Ästhetik aus Olympia widersteht), findet ihr Echo letztlich auch auf der programmatischen Ebene.

In Gestalt seiner bis heute unermüdlich propagierten Dissidenz eines cinema verité bzw. des direct cinema. In der Ablehnung eines Dokumentarkinos also, welches sich einer objektiven filmischen Wahrheit verschrieben hat und unter Berufung auf einen rigiden produktionsethischen Kodex die filmischen Mittel soweit wie möglich zu reduzieren sucht. Dieses ´Wahrheitskino´ kulminiert in einer Ästhetik der „Nicht-Gestaltung“ und in der zentralen Forderung nach der Selbstverleugnung, der „selflessness“ des Regisseurs (Richard Leacock). Dem setzt Herzog ganz entschieden sein konträres Programm des Dokumentarfilms als kunstvoller Ausdruck individueller Selbsthervorbringung (v.a. des Regisseurs nämlich) entgegen. Exemplarisch sehen und hören wir ihn in Les Blanks Werner Herzog eats his shoe (1980) einen flammenden Appell zur kollektiven Nachahmung an sein Publikum richten: „Jeder von Ihnen sollte sich eine Kamera nehmen und einen Film machen!“ Film als demokratisch-spiritueller Erlösungsapparat.

arno-breker.JPGInteressant ist allerdings, dass sowohl cinema verité als auch Herzogs Autopoesis-Konzept im Grunde die gleichursprüngliche Motivation und Teleologie aufweisen. Nämlich das Aufspüren einer mystischen Authentizität. Einer Echtheitssuche, wie sie aus dem Nachkriegskino insbesondere in Deutschland weitgehend verschwunden war, und die es wieder zu entdecken gilt. Beide dokumentarischen Schulen unternehmen diese Suche auf völlig unterschiedliche Weise. So bemerkt James Blue zum ästhetischen Konzept des cinema verité: „Wenn Wahrheit der Gott dieser Religion ist, dann ist die Echtheit ihr Prophet“. In dieser Sentenz manifestiert sich nicht nur eine Methode des künstlerischen Entbergens von Wirklichkeit, sondern gleichzeitig ihr ethischer Entwurf: „Daher wird die [subjektive] Hervorbringung, als die eigentliche Pflicht des Künstlers, ersetzt durch das Lüften des Schleiers, Glaubwürdigkeit ersetzt durch Echtheit und Schönheit ersetzt durch Wahrheit“ (Blue). Eindeutig ist das Kalkül, welches sich hier verbirgt ein medienkritisches. Die Kamera soll als möglicher Zerrfilter der Wirklichkeit unsichtar werden. Dem gegenüber sieht zwar auch Herzogs Filmkunst ihre Aufgabe im „Lüften des Schleiers“, ist sich dabei allerdings der intuitiven, kontingenten Energie bewusst, die dieser Form der Authentizität den Weg bereitet. Deswegen liegt sein Echtheitsversprechen in der radikalen Subjektivität des Ausdrucks begründet. Eine subversive Subjektivität übrigens, die, bewusst herbeigeführt, dem surrealistischen Prinzip halluzinatorischer Entgrenzung nicht unähnlich ist. Die Kamera erfüllt hierbei die Aufgabe eines rituellen Fetischs, ist vielmehr Mikroskop und Teleskop als bloßes Schlüsselloch zur Welt. Herzog benutzt sie in der Art eines liturgischen Instruments, das transsubstantiierend wirken soll. In seiner Filmkunst geht es denn auch nicht darum, empirische Entdeckungen zu machen, sondern in daseinsferne Gebiete vorzustoßen um dadurch eine vermeintlich „höhere Wahrheit“, ein inneres Geheimnis anthropologischer Kollateralräume zu entlarven – dies kann die Düsternis der Dschungellandschaft sein, aber auch die rauschende Schwärze der Taubblinden in Land of silence and darkness (1971).

Zur alles bestimmenden Figur dieser Kunst wird der Autor, ohne den das wahre Wesen der Wirklichkeit nicht zutage gefördert werden kann. Diese Form ästhetischer Unmittelbarkeit ist an eine romantische Vorstellung von Subjektivität gebunden, die nur im unmittelbaren Durchgang der Welt durch das Individuum in der Lage ist, Wahrheit offenzulegen, oder wie Herzog in seiner Minnesota Declaration, einem ausschließlich von ihm selbst ersonnenen Manifest, unter Punkt 5 bekennt: „Es gibt im Kino sehr tief liegende Wahrheitsschichten, und es findet sich dort so etwas wie eine poetische, ekstatische Wahrheit. Diese ist mystisch, schwerfassbar und kann nur mittels Herstellung, Einbildungskraft und Stilisierung freigelegt werden.“ Zu diesem Zweck unterliegt der filmische Prozess einer Umgestaltung zu einer Art asketischen Prozession. Einer ästhetischen Transformation, die ich im folgenden als Lebenskunst umschreiben will.

Nach dem technischen Verlust der Aura bietet sich der Kunst ein Umweg über das Konzept der Re-Sakralisierung der ästhetischen Sphäre durch die Gleichsetzung von Künstler und Kunstwerk. Subjekt und Objekt, Autor und Werk werden ununterscheidbar. Filmkunst als Lebenskunst zu betrachten bedeutet, über die alltägliche Bewältigung des Lebens hinaus auf die Spuren des Seins zu kommen, mithin dessen Endlichkeit ins Ästhetische zu verlängern. Dies belegt Herzogs Vorstellung vom Filmemachen als Existenzweise, als philosophische Lebensführung. In diesem Kontext spielt und spielte immer schon die Sorge um das eigene Da-Sein eine beachtliche Rolle, denn schon in der antiken Philosophie soll die Lebenskunst vor allem eine Vorbereitung auf den Tod sein. Dort tritt sie noch als Katalog von Anweisungen zur pragmatischen Lebensgestaltung auf, und zwar in einer eher autoritären Form, im Gewand philosophischer Dogmatik. Im Mittelalter ganz durch den christlichen Glauben in Beschlag genommen, befreit Michel de Montaigne sie schließlich im 16. Jh. aus dem Korsett katholischer Eschatologie. Er betont den experimentellen Charakter der Lebenskunst. Indem seine Essais die Möglichkeiten der Lebens-Sorge aus der eigenen Erfahrung heraus erkunden, will er den Leser zum Überschreiten ideeller Grenzen animieren. In der offenen Form des literarischen Reiseberichts spiegelt sich sein Ideal der Lebenskunst als intellektuelle und geografische Grenzüberschreitung. Erst in der leiblichen Erfahrung subjektiver Wirklichkeit, in der Konfrontation mit anderen Kulturen, mit der Figur des Fremden, so Montaigne, kann das Selbst gehoben werden. In Herzogs Werk zeichnen sich deutliche Bezugslinien zu diesem frühaufklärerischen Lebenskunstkonzept ab, wie auch zu dem der Romantik. Dort firmiert die Lebenskunst als ekstatisch-träumerisches Kunst- und Naturerlebnis, setzt den Akzent wiederum auf eine mystische Innerlichkeit, bevor sie dann in der Moderne zur bereits erwähnten Verschmelzung von Subjekt und Objekt führt. Eine Verschmelzung, die sich am besten im individuellen Streben nach einer eigenständigen Sprache ausdrückt, einem idiolektalen Verlangen. Es sei angemerkt, dass gerade Herzog ein solch ausgeprägtes Sprachbedürfnis attestiert werden muss, sowohl im ästhetisch-metaphorischen als auch im rein linguistischen Sinne. Sprache, sei es im stets eingebrachten Off-Ton, sei es in der expressiven Sprache seiner Schauspieler, aber auch seine bewusst dialektal artikulierten Fremdsprachen spielen eine große Rolle in all seinen Filmen – und darüber hinaus. Auf den Punkt gebracht ist Lebenskunst: „Eine fortwährende Arbeit der bewussten Gestaltung des Lebens und des Selbst, um daraus ein Kunstwerk zu machen.“ (Wilhelm Schmid). Zu Fragen bleibt nun weiterhin, wie sich dieses historische Konzept der Lebenskunst, in den Filmen Herzogs aktualisiert und manifestiert.

hl-franziskus.jpgBezeichnend für das filmische Oeuvre Herzogs ist die Zusammenführung der im Grunde unvereinbaren Genres Dokumentation und Spielfilm. Als Synthese von Wirklichkeit und Fiktion findet diese pikareske Erzähldiffusion ihre Verlängerung über den Filmdreh hinaus, denn oftmals werden bei Herzog – nicht ohne Kalkül – die Dreharbeiten oder die Pre-Production eines Films berühmter als die filmische Darbietung als solche. Ein Kalkül, das seine Filme dann nicht selten selbst zum Gegenstand von Filmen macht und sie derart dem Prozess der medialen Mythifizierung einschreibt. Das Lebenskunstmaterial ist bei ihm ein einziger großer Projektentwurf, eine Projektion. Dabei ist Herzog alles andere als ein Romancier, der sich um dramaturgische Spannung oder eine geschlossene Narration bemühen würde. Seine Vorgehensweise ist vielmehr experimentell. Selbst bei Wings of Hope (wie auch bei dem inhaltlich sehr ähnlichen Little Dieter needs to fly, dt.: Flucht aus Laos, 1997), wo er Juliane Koepckes Biografie diesen obsessiv forschenden, genuin herzogschen Touch der abermaligen Dschungelexpedition abringt. Obwohl das Unternehmen für die Protagonistin offensichtlich mit großer Überwindung verbunden ist, setzt sich der Regisseur bewusst an die Stelle eines Therapeuten, der im Dickicht des Urwalds und der Erinnerung die verschütteten Teile dieser unglaublichen Geschichte ausgraben will. In der delegierten (wie auch der eigenen) Konfrontation des Selbst mit den außerweltlichen Extremen findet Herzogs Konzept der Lebenskunst seinen Ausdruck; im Hineinversetzen in die Ekstase als einer Sehnsucht nach innerer Ruhe. Man könnte dieses ästhetische Vorgehen mit einigem Wohlwollen auch eine ambulante Form der Tiefenpsychologie nennen. Eine kinematografische Heterotopografie, das Aufsuchen und Kartieren des Ander-Ortes, bei der das Subjekt immer die Grenze zum Objekt überschreitet.

Der Mensch macht sich selbst im Medium. Fabricando fabricamur: Etwas gestaltend, gestalten wir uns selbst! Es ist vermutlich jenes Diktum, welches Herzog mit der Perspektive des „anthropologischen Auges“ meint, die alle seine Filme auszeichnet: „Der Mensch ergreift Besitz von sich“ (Raoul Haussmann). Dass er dieses Prinzip aber nicht nur auf sich selbst anwendet, sondern es ungefragt auch auf seine filmischen Objekte ausweitet, gehört zu den äußerst widersprüchlichen Attitüden seiner ´Aura-Suche´. Ich möchte auf diesen Aspekt ästhetisch-ethischer Vermessenheit weiter unten noch zu sprechen kommen. Zunächst ist festzuhalten, dass sich der Lebenskünstler innerhalb des Prozesses der Ästhetisierung seiner Existenz militant in den Mittelpunkt der gestaltenden Selbst-Wahrnehmung stellt. Die Phänomenologie, etwa nach Merleau-Ponty, spricht von dem Objekt, welches als Subjekt in Erscheinung tritt. Mit anderen Worten offenbart sich das Kunstwerk erst im diastolischen Fluten des Künstler-Ich. „Nicht ich bin es, der wahrnimmt, sondern es nimmt durch mich war“ (Schmid). Lebenskunst ist Transformation der Identität und tritt an die Stelle der Geschlossenheit des Subjekts. In diesem Sinne geht Herzog immer wieder an die Grenzbereiche seiner Existenz, fusioniert Privates und Künstlerisches und begibt sich in Lebensgefahr. So unterwirft er sich im Dschungel einer höchst bedrohlichen Natur, die er nicht beherrschen kann, wird passiv und verändert sich dadurch. Die existentielle Offenheit des Lebens-Künstlers findet sich gleichsam repräsentiert in der Infinität seiner Objekte. Dem entsprechend sind Herzogs Filme meist von ihren willkürlichen, abrupten Enden signiert. Auch das hat Methode: das Werk wird, ungeachtet seines ursprünglichen Konzepts, einfach gelassen, ohne weitere Fixierung auf den beabsichtigten Endzustand – es bleibt suchend. Parallelen zur filmischen Performancekunst, die ja ebenfalls experimenteller, Ergebnis offener Natur ist, tun sich auf. „Die Performance ist ein Akt des Subjekts, der das Reale transformiert. indem er eine andere Realität manifestiert“ (Schmid). Nur in der Anerkennung seiner Dezentriertheit, der Einsicht in seine konstitutive Gespaltenheit im Ort dieser anderen Realität vermag das Subjekt Identität herzustellen. Die dokumentarische Expedition ins Niemandsland ist somit nichts anderes als gestaltende Selbst-Aneignung.

Immer wieder spricht der Regisseur in seinen Filmkommentaren mit einigem Pathos von den „ungeheuren Anstrengungen und Entbehrungen“, die seine Projekte ihm abverlangen und propagiert gerne seine autopoetische Transformation zum leidensfähigen Lebenskünstler. Emblematisch ist in diesem Zusammenhang eine inszenierte Selbst-Darstellung, die er zum Logo seiner Produktionsfirma gemacht hat. Sie zeigt Herzog in der Leidenspose des Märtyrers oder christlichen Heiligen: den Kopf zurück geworfen, die Arme gen Himmel ausgebreitet, im Moment der entbrannten Selbstaufgabe und des Heiliggeistempfangs. Eben im Moment der (ontologischen) Transformation.

Wolfgang Schirrmacher zählt in seiner Begriffsbestimmung der Autopoetik das Merkmal der „Offenheit für das Andere“ auf, das an Heideggers Für-die-Welt-Sein erinnert, und meint, dass diese Offenheit als „Ruf und Sache einer Ethik aus Ästhetik“ sich unversehens ergibt. Lebenskunst als Wissen und Können des Selbst konstitutiert sich darum nur in Bezug und in Abgrenzung zur Außenwelt. Wenn man so will, liegt das Gelingen der herzogschen Dokumentationskunst demnach in der filmischen Bezeugung eines gelingenden Willens, der sich selbst erst in der Differenz-Identität von Selbst und Andersheit ergibt. Um es mit Lacan zu sagen: die paradoxale Verfasstheit des Subjekts findet erst im Phantasma ihre autopoetische Auflösung. Das (filmische) Objekt vermittelt zwischen dem Begehren des (filmenden) Subjekts und dem Begehren des Anderen, auf das es sich bezieht. Herzogs Bilderkosmsos ist nicht umsonst voll von phantasmatischen Figuren, die ihm einen Selbst- und Weltzugang eröffnen. Sie sind notwendige Instanzen der gelingenden Autopoetik und zugleich Repräsentationen einer „Ethik, die mehr als ein klapperndes Gerüst von Werten ist, [entstanden] aus Ästhetik, der Anschauung des gelingenden Lebens, die sich authentisch erst im lustvollen Wahrnehmen der Eigenwelt erfüllt“ (Schirrmacher). Daraus ergibt sich vielleicht die monomanische Konsequenz, mit der dieses Gelingen voran getrieben wird  – und Herzogs Label-Pose ein Stück weit erklärbar macht als die Verwirklichung des Subjekts im Akt transgressiver Selbst-Steigerung. Diese autopoetische Elevation nennt Schirrmacher nicht ohne Bedenken die „Bewegung zur Einzigartigkeit“. Herzog versucht jene auratische Bewegung mit dem flagellierenden Gestus seiner Dokumentarfilme hervorzurufen. Sei es nun im Dschungel, wie in Wings of Hope, oder in Gasherbrum – Der leuchtende Berg (engl.: The Dark Glow of the Mountains, 1984). Beide zelebrieren das Gehen als Mantra der Autopoetik.

Eine verbreitete Praxis spiritueller Askese, mit dem Ziel zur inneren Wahrheit und damit zur Einzigartigkeit der Erfahrung zu gelangen ist das Ritual. Schon in Herakles begegnet uns die rituelle Bewegung leitmotivisch in einer Einstellung, die das biomechanische Aufdrehen eines Gewichts zeigt und darüber hinaus als kinematografische Metapher für die Filmspule zu verstehen ist. Herzog dokumentiert das rituelle Element in der filmischen Bewegung. Der Film hält das Leben in Bewegung – und vice versa. Deshalb muss die Kamera auch von den Füßen bewegt werden. Korrespondierend dazu lautet eine seiner Maximen aus dem Manifest: „Tourismus ist eine Sünde, das Reisen zu Fuß hingegen eine Tugend“ (Herzog). Im Gehen als anthropomorpher Tätigkeit liegt für ihn, ähnlich wie für Thomas Bernhard, eine genuine Denkbewegung: die der Grenzüberschreitung. Nur wer seinen physischen und gedanklichen Ort verlässt, vermag sich im Anderen des Ortes (wieder) zu erkennen, vermag die enge Grenze des Ich zu überqueren. Das Immerweitergehen als spiritueller Prozess ist dem Regisseur letztlich ein Sich-Verlieren im Glauben. Keine unbedingte Selbstauslöschung wie bei Bernhard, kein psychischer Destruktionsprozess, sondern das Aufheben der Zeit im Unendlichen. Ist bei Bernhard der Höhepunktmoment des Denkens gleichbedeutend mit dem der Grenzüberschreitung nach Steinbruch, also ins Irrenhaus, in den Wahnsinn, und damit äquivalent zum Moment des endgültigen Austretens aus der Zeit, so verhält es sich bei Herzog umgekehrt. Gehen wird in einem archaischen Sinn als Menschwerdung verstanden, nämlich als Ekstase. Es ermöglicht ihm eine pantheistische, eine auratische Erfahrung: das Einswerden mit dem Anderen. In einer symptomatischen Szene am Schluss der Dokumentation Gasherbrum kommt es zu einer spontanen Verbrüderung zwischen dem Filmemacher und dem porträtierten Extrem-Bergsteiger Reinhold Messner. Er gibt in jenem Moment seine dokumentarische Distanz völlig auf. Erregt pflichtet Herzog den pseudo-spirituellen Ausführungen des Alpinisten bei. Genau wie Messner sei er ebenfalls von dem naiven Wunschtraum besessen einfach immer weiter gehen zu können bis plötzlich entweder der Tod eintritt, oder die Welt zu Ende ist. Der Wunsch nach dem Eins-Werden im Heraustreten aus der Welt ist beispielhaft für Herzogs Kino und zugleich Motivation seiner Suche nach Personen, die gerade diese Ekstase antreibt. „Sein ist… Zeitlichkeit, Hingehaltensein in das Nichts…, ist nicht Existenz…., sondern Ek-sistenz, d.h. Nicht-in-sich-stehenbleiben, sondern immer schon „Aus-stand“ in das Nichts“ (Martin Heidegger zitiert nach Hirschberger). So ist es mit dem Aus-Stehen Walter Steiners (Die Große Ekstase des Bildschnitzers Steiner, 1974), mit dem Aus-Stehen Julianes und Dieters und auch Reinhold Messners. Mit diesen (realen) Figuren, mit ihren Lebensläufen identifiziert sich Herzog in höchstem Maß. Sie alle haben Grenzerfahrungen und –überschreitungen erlebt, sei es beim Skifliegen, im Gebirge oder im Dschungel. Sie haben ekstatisch aus sich ausstehen müssen um wieder oder überhaupt existieren zu können. Nicht umsonst verlangt man vom Skispringer, dass er einen Sprung ´stehen´ muss. Ist doch der Moment des Stands der legitimierende Moment für die Existenz nach dem ekstatischen, das Sein bedrohenden Flug. Der Tod des Flugs sozusagen im Zurückkehren zur Erde bedeutet daher vollendete Zeitlichkeit, Bodenhaftung und Rückkehr ins Da-Sein – auch als Abschluss und Möglichkeit der vollständigen Erzählung vom Sein. Der Wunsch des Skifliegers Steiners jedoch, das Gefühl des Fliegens möge kein Ende nehmen, ebenso wie der Traum Herzogs/Messners, das Immerweitergehen möge kein Ende nehmen, ist gleichbedeutend mit der romantischen Aufhebung des Individuums im ästhetisch Unendlichen. Die Erlösung im auratischen Moment der Ekstase.

Diese auratischen Momente der „nahen Ferne“ (Benjamin) transponiert Herzog zu Beginn seiner Filme zunächst auf Landschaften und schließlich auf die Menschen in ihnen, die in diese Landschaften hineingeworfen sind und sie in ihrer Natur notwendig ´verstehen´ lernen müssen. Ein Beispiel für eine solche Symbiose ist Julianes Schicksal in Wings of Hope. Ihr gegenüber versucht er während des ganzen Films eine gewisse Seelenverwandtschaft aufzuzeigen, die sich auf eben diese unio mystica mit dem archetypischen Lebensraum des Urwalds gründet. Herzog inszeniert eine Überidentifikation mit seinem filmischen Objekt, die typisch ist für seinen dokumentarischen Stil. So lässt der Regisseur in der bald folgenden Flughafenszene keinen Zweifel an der schicksalhaften Verknüpfung seiner eigenen Biografie mit derjenigen Julianes, die ja der vermeintliche Anlass für die Dokumentation ist. Mit einiger Berechtigung muss man bei Wings of Hope wenigstens zum Teil auch von einem Selbstporträt des Regisseurs Werner Herzog sprechen. Zumal er einmal unmissverständlich zu verstehen gibt, dass er genausogut Julianes Platz als Überlebender des Absturzes hätte einnehmen können. Man spürt aus seinem Auftritt, dass er Juliane für ihr inkommensurables Schicksal, für die Aura, die ihr unglaubliches Überleben bedeutet, beneidet. Obwohl überwiegend Faszination aus den Bildern spricht, die die sanfte Würde dieser Frau einfangen, ist das egozentrische Besetzen seiner Figuren ein ästhetisches Fundamentalelement bei ihm. Schon in der Wahl seiner Darsteller und Themen sucht Herzog das phänotypisch Auratische, bevorzugt er eine ebenso unmittelbare wie unnahbare Einzigartigkeit seiner Objekte. Deswegen auch seine Vorliebe für die physisch und gesellschaftlich Stigmatisierten mit ihren irritierenden, sichtbaren Körper-Zeichen. Darunter Kleinwüchsige, Blinde, Hässliche, Riesen (vulgo Bodybuilder), und nicht zuletzt der im wirklichen Leben obdachlose Laiendarsteller Bruno S. verkörpern dieses Prinzip mit ihrer ganzen Biografie. Sie alle sind Abkömmlinge des Kaspar Hauser, der herzogschen Leitfigur des ausgesetzten Parias. Es handelt sich bei solchem Personal nicht nur um schlichte Besetzungen, sondern um Installationen von Mensch-Natur- Gefügen, die immer schon existentielle Ur-Szenen bergen. Ganz besonders deutlich wird dies nochmals an der Figur der Juliane, die buchstäblich wie Ikarus vom Himmel fällt und sich verletzt und verlassen ins Leben zurück kämpft. In gewisser Weise sucht Herzog sich auf diese Art immer wieder schauspielerische Doppelgänger. Figuren und Autor verschmelzen auf eigentümliche, ostentative Weise. Thomas Elsaesser stellt dazu fest: „the author is subtly living this dialectic…“. Eindrücklichstes Beispiel für die nicht immer  subtile Dialektik von Autor- und Darstellerfigur, ist die Doku Mein liebster Feind. Hier geht die Verschmelzung zwischen Regisseur und Figur so weit, dass Klaus Kinski quasi als ein Homunculus seines Regisseurs erscheint.

Gerade in diesem Punkt subjektiver Vereinnahmung, die das Überschreiten der schmalen Grenze zwischen Ethik und Ästhetik markiert wie ich sie oben skizziert habe, setzt aber auch die Kritik an Herzogs ästhetischem Programm an. Gertrud Koch sieht darin die ethischen Verfehlungen einer künstlerischen Vorgehensweise am Werk, das von einer „neoromantisch-regressiven Theologie“ besessen ist. Einer filmischen Theologie innerhalb derer sich der Autor als Schöpfer seiner porträtierten Kreaturen an die Stelle Gottes setzt. Gleichzeitig spricht sie seinem Werk den avantgardistischen Impetus ab und stellt sich damit explizit gegen den von Herzog ganz unbescheiden formulierten Anspruch ein „filmischer Visionär“ zu sein. In diesem Zusammenhang lohnt sich erneut ein Blick auf das Konzept der Lebenskunst:

„Die eigentliche Pointe des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik liegt aber erst im Übergang zu einer Lebenskunstlehre, bei der der ästhetische Blick auch auf Dinge der äußeren Welt gerichtet wird. Bei diesem >magischen Idealismus< handelt es sich nicht um eine creatio ex nihilo, sondern um ein Romantisieren von Gegebenem, um eine Konstruktion von >Realität<, wobei >Realität< als Relationalität gefaßt ist: Es geht um angeeignete Wirklichkeit, die im Wechselverhältnis von Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt, innerer und äußerer Welt konstituiert wird.“(Herbert Uerlings)

In diesem letzten Punkt konstatiert Koch ein methodisches Missverständnis in den Filmen Herzog. Dass nämlich die äußere Welt hier nicht schöpferisch angeeignet, sondern einfach unterworfen, in romantischer Verklärung ebenbildlich zurechtgerückt wird. Sogar Novalis warnt bereits vor der künstlerischen Subjektivierung zum Zweck der Selbst-Vermittlung, mithin das Symbolische mit dem Symbolisierten gleichzusetzen. Denn das sei genau das Gegenteil einer ethischen Ästhetik. Eine Gleichsetzung übrigens wie wir sie als ein Hauptmotiv in Alfred Hitchcocks Werk inszeniert sehen. Die Figur des Doppelgängers, Repräsentant der unzulässigen Verwechslung des Selbst mit dem Anderen, fungiert dort immer auch als Todesbote, da sich im Doppelgänger die Einzigartigkeit des Seins aufgehoben findet. Jedoch: Die Klärung der Frage nach einer konzeptuellen Fehlhandlung Herzogs, einer ethischen Grenzüberschreitung im Dienste seines ästhetischen Dokumentarismus, würde hier zu weit führen und muss daher an anderer Stelle diskutiert werden.

Abschließend ist zu sagen, dass das Medium Film Herzog als Instrument seiner ganz persönlichen, dokumentarischen Echtheit dient. Filme zu Drehen gewährt ihm die Möglichkeit, Lebenskunst realisieren und dokumentieren zu können. Mit seiner Ästhetik versucht er, die ursprüngliche Erfahrungshaftigkeit des Daseins wiederzubeleben. Die Kamera ist ihm dabei nur Hilfsmittel, ein visuelles Stethoskop durch das mystische Authentizität zu Tage gefördert und dem Einerlei des Gewöhnlichen Daseins entrissen werden soll. Vielleicht kann zu guter Letzt anhand Walter Benjamins Definition der Aura natürlicher Dinge, auch Herzogs Anliegen verstanden werden: „An einem Sonntagnachmittag ruhend einem Gebirgszug…folgen, dass heißt die Aura dieser Berge atmen“. In der Schlusssequenz von Gasherbrum, die aus einem endlos langen Schwenk über die Gebirgskämme des Himalayas besteht, kommt es einem so vor, als ob der Filmemacher die Benjaminsche Sentenz bebildert hätte. Mit Hilfe seines durch und durch subjektiven Dokumentarstils soll eine raumzeitliche Einzigartigkeit transportiert werden. Und so widersetzen sich Herzogs Filme in gewissem Sinne auch der Reproduktion, dem Remake (wie es etwa James Benning macht), denn sie sind mit einem ungeheuren Aufwand an Einzigartigkeitsbemühen und raumzeitlicher Kontingenz gedreht. Darüber hinaus sind seine Filme mitnichten nur narzisstische Authentifizierung, sondern in dem naiven Glauben verhaftet, der ´anthropologische Dokumentarfilm´ könne einen Teil zumindest der durch das Leben, vielleicht sogar das Leben innerhalb der Reproduktionsmedien verloren gegangenen Aura retten. Um mit Paul Ricoeur zu sprechen: Herzogs Filme sind narrative Symbole. Symbole für den Filmemacher Werner Herzog, an die man Glauben muss – oder eben nicht.

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