Ich habe keine Angst

1978, Sommer, Süditalien. Es ist so heiß, wie schon lange nicht mehr. Die Weizenfelder sind goldgelb und wiegen sich im Wind. Kein Regen. Man bleibt im Haus bis die Sonne untergeht. Nur den Kindern macht die Hitze nichts aus. Sie spielen – die menschenverlassene Welt ist ihr Spielplatz. Als der kleine Michele mit seinen Freunden auf einem verlassenen Bauernhof spielt, entdeckt er ein Loch in der Erde und als er in das Loch hinabschaut, sieht er ein Bein. Er erzählt seinen Freunden nichts davon und kommt am nächsten Tag wieder. In dem Loch lebt ein kleiner, gleichaltriger Junge, der glaubt, dass er tot sei. Michele freundet sich mit ihm an und bringt ihm regelmäßig Essen und Trinken. In den Nachrichten erfährt Michele, dass der Junge Filippo heißt und entführt wurde. Seine Mutter sorgt sich um ihn. Michele weiß zwar nicht, was „entführt“ bedeutet, erzählt Filippo jedoch von dessen Mutter. Zuhause bei Michele gibt es indes Veränderungen: Ein fremder Mann zieht ein und die Erwachsenen des kleinen Ortes benehmen sich eigenartig. Bald schon bekommt Michele heraus, dass sie den kleinen Filippo in das Loch gesperrt haben. Er versteht nicht warum und will ihn befreien. Dabei wird er von den Erwachsenen überrascht. Als nun auch Hubschrauber über das Dorf fliegen, die nach dem Entführten suchen, entscheiden die Erwachsenen, Filippo zu töten. Michele, der sie bei ihren Plänen belauscht hat, versteht zwar immer noch nichts, weiß aber, was zu tun ist.

Gabriele Salvatores Film „Ich habe keine Angst“ ist weder ein Gruselfilm noch ein Kidnapping-Thriller. Seine Erzählung dient einzig dazu, die Ausnahmesituation des kleinen Michele zu illustrieren, der sich an der Schwelle vom Kindsein zum Erwachsenwerden befindet. Michele merkt an den infantilen Spielen seiner Freunde, dass er nicht mehr zu ihnen gehört, er versteht jedoch auch die Erwachsenen nicht – weder ws sie tun noch was sie sagen. Er ist genauso gefangen, wie sein gleichaltriger Freund Filippo dort unten im Loch. Das einzige, dessen Michele sich sicher ist, ist die Verantwortung, die er für Filippo hat und die er über alle Versprechungen gegenüber den Erwachsenen stellt. Als er wieder Anschluss an seine alten Freunde sucht, wird er enttäuscht: Er verrät sein Geheimnis seinem besten Freund, der es sofort an die Erwachsenen weitergibt und Michele und Filippo dadurch in große Schwierigkeiten bringt.

Salvatore inszeniert seinen Film als synästhetisches Kunstwerk zwischen Bildern, Musik und Bewegungen. Die Freiheit, das Licht des Sommers und das unbeschwerte Spiel der Kinder verlieren zu keiner Zeit den Eindruck der Lebensfreude. Selbst die Entdeckung des entführten Kindes kann diese Atmosphäre nicht zerstören. Es ist zwar ein gruseliges Geheimnis, das Michele lüftet, er hat jedoch keine Angst – selbst als er zum ersten Mal in das Loch hinabsteigt und den ungewaschenen, wirr redenden, mit entzündeten Augen vor ihm stehenden Jungen aus der Nähe sieht. Der so herunter gekommene Filippo sieht mit seiner weißen Haut und seinen blonden Haaren zudem aus wie ein Wesen von einer anderen Welt. Doch selbst das weckt höchstens die Neugier von Michele.

Neben den grenzenlosen Kamerablicken über die sich im Wind wiegenden Weizenfeldern, durch die die Kinder in ihrem Spiel rennen, ist es vor allem die Musik, die dem Film seinen unwirklichen und märchenhaften Charakter beschert. Komponist Ezio Bosso hat den Soundtrack in 14 Tänze aufgeteilt: „14 Kindertänze um ein Loch“ nennt er seine Komposition, die mit einem Streichorchester und einer Solo-Violine Themen, deutlich angelehnt an barocke Werke, wie Vivaldis Vier Jahreszeiten und Pachelbels Kanon in D-Dur ist. Die Musik ist den Bildern der Landschaft und dem Rhythmus des Geschehens „auf den Leib“ komponiert, akzenturiert dramatische Situationen mit der selben Leichtigkeit, mit der sie das Spiel der Kinder begleitet und den Winde in den scheinbar unendlichen Feldern hörbar macht.

Dass Salvatores Film als Parabel funktionieren kann, verdankt er in erster Linie seinen Figuren. Allen voran natürlich Giuseppe Cristiano, der das Leben des kleinen Michele so mysteriös und dennoch authentisch widergibt, dass man sich als Zuschauer in die eigene Kindheit zurück versetzt fühlt. Dem gegenüber stehen die Probleme der Erwachsenen, die eindeutig aus der Perspektive Micheles gezeigt und interpretiert werden, wie unendlich ferne und unverstehbare Nichtigkeiten gegenüber. Das Verhalten der Eltern Micheles ist von Ambivalenz geprägt: Sie müssen streng erziehen aber zugleich beschützen – vor allem, nachdem Michele in den Entführungsfall „eingeweiht“ ist. Die widersprüchlichen Aussagen und Handlungen dringen wie von weiter Ferne in das Bewusstsein des Jungen, der mit seinen Gedanken bei Filippo im Loch ist. Dieser wiederum steht für jene undenkbar ferne Welt jenseits der Felder und für das Versprechen, dass diese Welt erreichbar ist. Mattia di Pierro spielt den fast erblindeten Filippo mit Feingefühl und verleiht ihm die Ausstrahlung von Saint Exupérys kleinem Prinzen, der eine völlig verschrobene, kindhafte Perspektive auf seine Situation hat.

„Ich habe keine Angst“ ist ein emotionaler, verspielter und märchenhafter Film, der trotz der in ihm behandelten Ereignisse nie seine Zauberhaftigkeit verliert. Seine parabelhafte Erzählung bebildert meisterhaft jene Schwelle „später Kindheit“, die noch gar nichts von den Problemen der Welt weiß, diese aber zu ahnen beginnt. Salvatore findet für jedes Gefühl und für jeden Schritt in Richtung Erwachsenenwelt das richtige Bild, den richtigen Ton. Die Virtuosität, mit der er dabei verfährt, sucht ihresgleichen.

Ich habe keine Angst
(Io non ho paura, Italien 2003)
Regie: Gabriele Salvatores
Buch: Niccolò Ammaniti; Musik: Ezio Bosso & Pepo Scherman; Kamera: Italo Petriccione; Schnitt: Massimo Fiocchi
Darsteller: Aitana Sánchez-Gijón, Dino Abbrescia, Giorgio Careccia, Giuseppe Cristiano, Mattia Di Pierro u. a.
Verleih: Kinowelt
Länge: 104 Minuten

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