Die Revolution frisst ihre Kinder

Wie jede Revolution – und sei sie auch noch so permanent – hat auch die sexuelle Revolution durch ihre Verschiebung des Status Quo zu einer Normalisierung des zuvor „Transgressiven“ und damit zur Entwicklung einer neuen kulturellen Selbstverständlichkeit geführt. Die Individuen sind jedoch nicht alle gleich schnell in der Lage, sich auf diese Selbstverständlichkeit einzulassen und es scheint, je weiter sie von der revoltierenden Generation entfernt sind, desto schwieriger ist die Akzeptanz des Neuen. Der Sexfilm der 1970er Jahre hab nur wenige Jahre nach der sexuellen Befreiungsbewegung der 60er daher nicht nur gezeigt, inwiefern das damalige „Spießertum“ versucht hat, die Geschehnisse kulturell umzudeuten. Dass die Regisseure der Elterngeneration die Agenda der Jugend so absichtlich „falsch verstanden“ haben, offenbart auch, welche Schwierigkeiten sie damit eigentlich hatten. Bereits 1969 führte Michael Verhoeven diese Schwierigkeiten in einem „kleinen Generationenkonflikt“ vor, bei dem er einen Mittdreißiger an den neuen sexuellen Selbstverständlichkeiten verzweifeln ließ.

Der von Mario Adorf gespielte Stoffverkäufer Augustin Wohlfahrt ist auf dem besten Wege so etwas wie eine bürgerliche Existenz zu etablieren. Er bewohnt zusammen mit seiner Frau Helene (Gila von Weitershausen) und seinem Sohn eine chice Altbauwohnung. Doch Augustin ist getrieben von der Zwangsvorstellung, an einer Orgie teilnehmen zu müssen. Aus Illustrierten, Romanen und der Begegnung mit jungen Leuten informiert er sich über die neue befreite Sexualität und erhält den Eindruck, es sei normal, sich den verschiedensten lustvollen Ausschweifungen zu ergeben – bzw. unnormal, es nicht zu tun. Er arbeitet an einem Traktat über die Polygamie und versucht seine junge Ehefrau, mit der er mehrfach täglich durchaus abwechslungsreichen Sex hat, von seinen Ideen zu überzeugen. Diese hält jedoch wenig von Augustins Vorhaben, zumal sie der Meinung ist, ihr Sexualleben sei völlig in Ordnung. Dennoch beginnt Augustin zunächst außerhalb seiner Ehe nach jenen Erfahrungen zu suchen, die die Jugendlichen angeblich pausenlos machen und als dies nicht gelingt, eine Orgie bei sich zu Hause zu organisieren. Dumm nur, dass er durch ein Missgeschick selbst nicht daran teilnehmen kann und beim Gedanken an seine Frau unter den Fremden ungeahnte „Gefühle von Monogamie“ in sich entdeckt.

Michael Verhoeven legt bereits in seinem zweiten Spielfilm jenen unverwechselbaren Srakasmus an den Tag, für den er in den 1980er und 90er Jahren bekannt wird. Da ist zum einen das scheinbar affirmative Aufgreifen der Sexfilmästhetik, etwa wenn Augustins Zwangsvorstellungen dazu führen, sich jede Frau nackt vorstellen zu müssen und dies von einem albern-slapstickhaften Soundeffekt begleitet wird. Andererseits entlarvt Verhoeven den Umgang mit der Sexualität jener Zeit nicht nur als „nicht neu“, sondern weißt ihm sogar reaktionäre und totalitäre Tendenzen nach. Die Zwanghaftigkeit, mit der sein Protagonist seine Vorstellungen zu verwirklichen sucht, rückt der Film in die Nähe des Faschismus. Die gelegentlichen Anspielungen auf die Nazi-Zeit – etwa in im Bild auftauchenden NS-Symbolen – werden konsequent an das Thema Sexualität angeschlossen.

„Hoppe Hoppe Reiter – Engelchen macht weiter“ ist eigentlich Teil einer Filmreihe über die Figur „Engelchen“ (Gila von Weitershausen), die bereits ein Jahr zuvor als „Jungfrau von Bamberg“ (Regie: Marran Gosov) auftrat, die sexuelle Revoution zu kommentieren. Verhoevens Sequel der Reihe hält jedoch nichts davon, das etwas plumpe Überschreiten von Grenzen seines Vorgängers weiterzutreiben, sondern weist quasi in einem Blick zurück über die Schulter auf diese immer noch bestehenden Grenzen hin. Der Film entlarvt damit eine Art neuen Spießertums, welches sich gerade in seiner zwanghaften Zwanglosigkeit offenbart. Was Verhoeven damals noch nicht ahnen konnte ist, wie ungehört er mit seinem Beitrag bleiben würde: Der Sexfilm und vor allem der so genannte Aufklärungsfilm der 1970er Jahre sollte genau das werden, was „Hoppe Hoppe Reiter“ in der in ihm allgegenwärtigen Sexualkultur kritisierte.

Hoppe Hoppe Reiter – Engelchen macht weiter
Deutschland 1969
Regie: Michael Verhoeven; Buch: Franz Geiger; Musik: Axel Linstädt; Kamera: Werner Kurz; Schnitt: Monika Pfefferle
Darsteller: Mario Adorf, Gila von Weitershausen, Ulli Koch, Christof Wackernagel, Dieter Augustin, Ilse Pagé u. a.
Länge: 81 Minuten
Verleih: EuroVideo

Die DVD von EuroVideo

Bild: 4:3 (1:1,66)
Ton: Mono 1.0 (deutsch)
Extras: keine
FSK: ab 16 Jahre
Preis: 15,95 Euro

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