Die abgetriebenen Träume

Die minimalistische Ästhetik des diesjährigen Cannes-Gewinners von Christian Mungiu lässt eine Reihe – zum Teil widersprüchlicher – Interpretationen zu, die jede für sich durchaus schlüssig und nachvollziehbar erscheinen. Der Film kann als ein Anti-Abtreibungs-Drama gelesen werden und gleichzeitig als ein Plädoyer für die Freiheit der Frau, diese Entscheidung zu treffen. Man kann darin genauso gut eine Parabel auf die Unterdrückung durch den totalitären Staat sehen, wie eine Warnung vor den „Nebenwirkungen“, die auf dem Weg zur ersehnten Befreiung entstehen. Es ist gleichermaßen ein Loblied der (weiblichen) Freundschaft und eine Bestandsaufnahme deformierter Beziehungen und missglückter Kommunikation… Ich greife aus dem filmischen Text daher nur einen Aspekt heraus, in dem sich alle weiteren Motive bündeln: die Entfremdung des Individuums von seiner Umgebung und – in extremer Konsequenz – vom eigenen Körper.

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Schon das erste Bild zeigt uns zwei Goldfische, die im kleinen, nur zu Hälfte mit Wasser gefüllten Aquarium, hastig hin und her schwimmen. Das Gefühl der bedrückenden Enge überträgt sich in den folgenden Einstellungen auf das kleine Zimmer eines rumänischen Studentenwohnheims kurz vor der Wende. Die Einrichtung ist armselig, keinesfalls aber nur auf das Notwendigste beschränkt. Die Zeichen der Bemühungen um die Überwindung der bloßen Immanenz bestimmen die Atmosphäre: Die Goldfische, die Vorlesungsskripte auf dem Tisch, die westlichen Pflegeprodukte – all das zeugt von der Sehnsucht nach dem Ausbruch in eine bessere Realität. Allerdings wird dieser Ausbruch für beide Freundinnen und Mitbewohnerinnen, Otilia und Gabita, durch diverse Hindernisse extrem erschwert: Zum Lernen ist das Wohnheim zu laut und zu hektisch, die begehrten Luxusgüter sind nur auf dem Schwarzmarkt zu kriegen, und die perfekte Körperpflege angesichts des Platz- und Warmwassermangels stellt fast eine Herausforderung dar. Die schüchterne und zerbrechliche Gabita, die mitten im alltäglichen Chaos fast stoisch ihre Beinenthaarung erledigt, ist beinahe zu bewundern. Doch ein kleines (Körper)Problem hat sie immer noch – ihre Schwangerschaft. Da die Abtreibungen im totalitären Rumänien verboten sind, ist bereits ein Termin mit einem Arzt vereinbart, der den Eingriff illegal vornehmen soll. Verzweifelt versucht Gabita, sich nüchtern auf die Vorbereitungen zu konzentrieren. Die zu verdrängende Nervosität bricht immer wieder aus ihr heraus und steigert sich bald fast ins Unerträgliche, bis die junge Frau in ihrem Handeln fast komplett gelähmt wird.

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Die bodenständigere und praktischere Otilia übernimmt notgedrungen die Initiative: Sie borgt das noch fehlende Geld, kämpft um den Platz im Hotel, wo die heimliche Abtreibung erfolgen soll, und trifft sich mit dem dubiosen Arzt, um ihn zu seiner Patientin zu bringen. Und überall findet sie sich in feindseligen Räumen wieder, in denen das Fortbewegen oder allein die Existenz nur als permanenter Kampf erfahrbar wird. Man bekennt sich weder zur eigenen noch zur allgemeinen Notlage und versteift sich schließlich gegen jede Art von Mitleid. Die globale Brutalität des Lebens wird durch private Brutalitäten kompensiert, die tagtäglichen Erniedrigungen den Unschuldigen mit einem Schlag heimgezahlt. Doch sogar auf diesem Hintergrund vermag die Forderung, die der Arzt den Frauen schließlich als Bedingung für die Abtreibung aufstellt, insofern zu schockieren, als er von ihnen die maximale Abstrahierung von ihren Körpern verlangt. Damit verwickeln sie sich in eine bedrückende Dynamik: Um den Körper von der Last der unerwünschten Schwangerschaft zu befreien, muss man ihn neuen Unterwerfungen ausliefern. Die Abtreibung stellt in dieser Hinsicht eine Metapher des qualvollen Ausstoßes der „störenden“ Elemente dar, der die Anpassung des Individuums an die Realität begleitet. Doch auch die Realität kann sich der „überflüssigen“ Individuen entledigen, die sich verzweifelt an ihre Normalität klammern, nur um festzustellen, das sie von ihrem Lebensentwurf schon längst abgeschnitten sind.

4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage
(4 luni, 3 saptamini si 2 zile, Rumänien 2007)
Regie: Christian Mungiu, Drehbuch: Christian Mungiu, Kamera: Oleg Mutu, Musik: Titi Fleancu u.a., Schnitt: Dana Bunescul
Darsteller: Anamaria Marinca, Laura Vasiliu, Vlad Ivanov
Länge: 113 Minuten
Verleih: Concorde

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