Das früheste Zeugnis einer Zusammenarbeit mit Wim Wenders ist die Musik für den Film „Alice in den Städten“ von 1974. Philip Winter (Rüdiger Vogler) liegt auf dem Bett. Der Motel-Fernseher läuft. Er schläft ein. Auf dem Bildschirm spielt ein Mann Maultrommel. Plötzlich ein Schnitt auf Winters Traum, auf den endlosen amerikanischen Highway, dem er schon seit Tagen folgt. Vogelschreie mischen sich für einige Sekunden rhythmisch mit den Klängen der vibrierenden Federzunge. Das könnte Irmin Schmidt gewesen sein. Der Zufall hat ein musikalisches Muster erzeugt und das wurde bearbeitet. Oder hat sich der Hörer getäuscht?
Für Thomas Schamonis Film „Ein großer graublauer Vogel“ hatte Schmidt nächtelang Kurzwellenradio-Geräusche zu Hause aufgenommen und diese dann umgeschnitten. In einem nächsten Schritt haben The Can, deren Keyboarder Schmidt damals war, dazu improvisiert – ein wunderbarer Soundtrack, unveröffentlicht. Die Idee ergab sich auch hier aus dem Film selbst, in dem das Abhören, Belauschen, Observieren eine große Rolle spielt. Am Schneidetisch hat Schmidt dann gemeinsam mit Peter Przygodda versucht, die musikalisierten Kurzwellen mit der konkreten Klangwelt des Films solange zu vermischen, bis das Alltagsgeräusch zu singen anfing.
Schmidts Sache war nie der vordergründige Effekt, offensichtliche Experimentiermusik hat ihn nicht interessiert. Das Neue kommt bei ihm diskret, manchmal verkleidet daher. Nach über dreißig Jahren gab es für „Palermo Shooting“ von Wim Wenders einen erneuten Kompositionsauftrag. Der Kölner Komponist bemüht sich in seiner Filmmusik schon lange um konkrete Musik, rein funktionelle Klangkulissen lehnt er ab. Wenn man seine Anthologien hört, werden die Stücke nicht inhaltlich nach den Filmtiteln geordnet, sondern nach seiner persönlichen Konzeption. Das befreit den Hörer vom Film. Die Komposition „Palermo Shooting“ existiert nur auf dem Spoon-Label, auf der CD „Filmmusik Anthology, Volume 4 & 5“ als das Material, das Schmidt tatsächlich für den Film geschrieben hat. Neben „Palermo Shooting“ ist auf der ersten CD noch Musik zu H. W. Geissendörfers „Schneeland“ (2004) enthalten. Der zweite Tonträger vereint Titel zu der TV-Serie „Bloch“, dem Zweiteiler „Paparazzo“ und dem Tatort „Wenn Frauen Austern tragen“.
In dieser Sammlung tritt vieles aus der Vergangenheit noch einmal zusammen: der Verweis auf einen bestimmten Komponisten – früher hat er Debussys Orchesterstücke als inspirierende Bilderkompositionen bezeichnet – in „Palermo Shooting“ ist es Johann Sebastian Bach, sein musikethnologisches Interesse und die Vorliebe für ein Blasinstrument als Solostimme. Dabei geht es nicht immer um den Klang des Instrumentes selbst, sondern um Assoziationen und Klischees z.B. von Filmmythen, die im Moment des Hörens zusätzlich beim Hörer präsent werden. Die drei Bearbeitungen eines Themas von Johann Sebastian Bach werden uns mit unterschiedlicher Instrumentierung vorgestellt: in der ersten für Akkordeon, dann für ein klassisches Cello und schließlich für Markus Stockhausens abgedämpfte Jazz-Trompete, der in „Palermo Shooting“ ohnehin eine verknüpfende Rolle zufällt. Noch heute ist es so, dass Irmin Schmidt den beteiligten Musikern eine relativ unkonkrete Grundidee vorstellt, darüber redet, begeistert – bei The Can hat er ganze Filmhandlungen erzählt – auf ein bestimmtes Gefühl lenkt und dann das Geschehen freigibt.
Und immer wieder auch der typische Rückgriff auf die amerikanischen Minimalisten. Diese nur wenig an Harmonien, dafür umso mehr an Rhythmusverschiebungen interessierte Kompositionspraxis ist Schmidts Markenzeichen, sie lässt sich in der gemeinsam mit Bruno Spoerri erarbeiteten Musik zu „Der Tote bin ich“ (1979) ebenso hören, wie auf „Toy Planet“ (1981), Schmidts erstem Soloalbum. Und die Orientierung auf unmerkliche Veränderungen in den repitierten Patterns und die suggestive Wirkung, die von dieser Musik ausgeht, passen zu ihm. Manchmal lässt er ein Saxophon eine Melodie dazu spielen. Er kann sie noch heute variantenreich arrangieren. Die Lautkombination „Zickezack“ aus dem Tatort „Wenn Frauen Austern tragen“ wird in Zusammenhang mit einer quietschenden Bettfeder solange wiederholt, bis sich allmählich andere Töne zu lösen beginnen. Wieder glaubt man als Hörer, dass man sie ebenso gut selbst dazu gedacht haben könnte.
Es gibt auch neue Sounds zu entdecken, die überraschen und die man bei Irmin Schmidt nicht erwartet. Da mag die langjährige Zusammenarbeit mit britischen Elektronik-Produzenten Jono Podmore aka Kumo anregend gewirkt haben. „Airport“, ein Stück aus dem Film „Schneeland“ beweist jedoch: Hinter allen zeitgebundenen Effekten und Treatments ist noch immer die ursprüngliche Matrix erkennbar, auch wenn hier Isis Zerlett und nicht Damo Suzuki die Singstimme zur Verfügung stellt.
Irmin Schmidt
Filmmusik Anthology Volume 4 & 5,
Spoon Records 2009
33 Titel, Spieldauer: 1:49:07 Stunden
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Gernot Hennings