„… der Augenblick, der sich niemals wiederholt“

Um kaum eine moderne Musikform spinnen sich derartig viele Mythen und Legenden wie um den Jazz. Kaum eine Musikform war derartig einflußreich, rührt doch kaum eine Spielart der Popmusik nicht in der einen oder anderen Form vom Jazz und seinem Ahnen, dem Blues, her. Kaum eine Musikform der Neuzeit ist so langlebig und in sich different – selbst heute noch variiert und moduliert sich der Jazz immer weiter in beliebig neue Ausdrucksformen. Sogar die Dancehalls und Lounges der internationalen Clubs elektrisiert er heutzutage wieder in Form von NuJazz, Fusion oder Downbeat. Jazz war, ist und wird wohl auch die nächsten Generationen sein. Zumindest muß man mit ihm rechnen.

Doch wie bereits oben angedeutet: Jazz ist nicht nur Musik und Kulturgeschichte, Jazz ist auch Mythos und Legende, somit quasi Bild geworden. Die wenigsten der Menschen, die sich nie direkt mit Jazz auseinandergesetzt haben, werden Jazz als Musik adäquat beschreiben können, wohl aber werden sie wissen, wie er, vor allem seine Ikonographie, „aussieht“: Sei es der Musiker, der sich ganz verinnerlicht seinem Instrument widmet, oder der andere daneben, der verschwitzt und enthusiastisch in einer Auszeit seinem Kollegen beim Solo zusieht. Oder sei es eine Sängerin, deren Gesicht purste Emotion und Lebensfreude vermittelt und die ganz im Augenblick aufgeht. Naheliegende Motive, die sich aber vor allem durch das „wie“ der Darstellung des Jazz ins Gedächtnis der Menschen eingebrannt haben. Dass Jazz eben nicht nur Musik, sondern eben auch ein ganz spezifischen Bild ist, verdankt er in erster Linie einem Menschen: William Claxton, der seit seiner Jugend die größten Momente und die legendärsten Stars des Jazz fotografisch festgehalten und zahlreiche Plattencover gestalerisch mit beeinflußt hat. Ohne ihn sähe es wohl ganz anders aus im Jazz. Und das ist durchaus wortwörtlich zu nehmen.

Julian Benedikt, der bereits vor einigen Jahren mit BLUE NOTE, einer TV- Dokumentation über das gleichnamige Jazz-Label und somit auch über den Jazz der West Coast, für einiges Aufsehen sorgte, meldet sich nun mit einem Ausflug an die East Coast der USA zurück: JAZZ SEEN – eine anekdotenhaften Dokumentation über William Claxtons Leben und Werk, vor allem aber über die Berührungspunkte zwischen beidem. Unter anderem. Hierbei wechselt Benedikt gekonnt zwischen nachgespielten biographischen Details, archive footage diverser TV-Sender, stellenweise noch nie veröffentlichten Fotos aus Claxtons Privatarchiv, den obliagtorischen Kommentaren berühmter Zeitgenossen und Wegbegleitern aus allen erdenklichen Nischen des kulturellen Spektrums und natürlich Claxton persönlich. So entsteht ein atmosphärisch dichtes, spannendes und dennoch locker beschwingtes Stück Zeitgeschichte, welches nicht nur 40 Jahre us- amerikanischer Popgeschichte sondern vor allem auch den ihren kosmopolitischen Flair vermittelt.

Im weiteren Verlauf werden wir Zeugen von Claxtons anfangs kindlicher Begeisterung für die Größen des Jazz: als kleiner Junge schon schnitt er deren Fotos aus Magazinen aus und klebte diese sorgfältig in ein Album, „my own night club“ wie er es nennt – nur ein paar Jahre später sollte er sie bereits alle fotografiert haben! Wir erfahren von den skurrilen Umständen, unter denen Claxton seine spätere Frau Peggy Moffit, eines der berühmtesten Fotomodells der 60er Jahre, kennen lernen sollte und wie er in einem tragischen Moment in der gleichen Nacht sein Atelier und einen Großteil seines Archivs verlieren sollte – eine Erinnerung, die ihm noch heute die Augen glänzen lässt. Und wir erkennen langsam das Konzept hinter seinen Bildern, wenn wir ihn beispielsweise bei seinen aktuellen zeitgenössischen Arbeiten oder aber auf seinen ersten Jazz-Konzerten erleben: „Ich warte auf den einen, den richtigen Augenblick, der sich niemals wiederholt, und in diesem drücke ich dann den Auslöser.“

Fast genauso könnte man den wilden Bebop-Jazz der Post-Swing-Ära beschreiben, denn auch dieser lebt von einem intensiven Bewusstsein für das Hier und Jetzt, für den kostbaren Augenblick, den man sich nur zu gerne schnappt. Dies war die Zeit der großen Solisten und des Improvisierens und Claxton sollte in seinen emotionsreichen, expressiven Bildern exakt dieses Lebensgefühl einfangen. Es ist also keine Übertreibung, wenn der Filmverleih stolz behauptet, Claxton mache Jazz fürs Auge. Vielmehr ist es auf den Punkt gebracht.

Besonders anschaulich wird dies in einem der vielen Höhepunkte des Films vermittelt: ein eigens für den Film geführtes Gespräch zwischen Claxton und Helmut Newton, einer anderen Ikone am Himmel der Top- Fotografen. Zwei sichtlich differente Welten prallen hier aufeinander, stellt Newton doch mit seinen kalten, überstilisierten und inszenierten Bildern einen krassen Gegensatz zu Claxtons eher dynamischen und bewegten Werk dar. Dennoch verläuft das Gespräch der beiden offenbar auch privat befreundeten Kollegen herzlich und respektvoll und nebenbei erhascht der Zuschauer einen kleinen Blick hinter die Fassaden des Fotografierens und seiner Bedingungen. Ganz beiläufig lernt er die Mechanismen und die unterschiedlichen Herangehensweisen an die Fotografie im künstlerischen Sinne kennen, wie er ebenso beiläufig eine kleine Geschichte des East-Coast-Jazz, verpackt in appetitlicher Anekdotenform, vermittelt bekommt. Immer wieder schweift die Dokumentation genüßlich in die Gefilde des Jazz ab, zeigt Aufnahmen damaliger Konzerte, unterlegt die stimmungsvollen Fotos mit den Aufnahmen alter Legenden des Bebop und kratzt an der Patina einer aufregenden Ära der us-amerikanischen Kulturgeschichte. Nostalgisch? Ja, zugegeben. Doch mit genug Augenzwinkern und Esprit, um nicht in der verbiesterten Verklärung des „Früher war alles besser“-Geredes unterzugehen.

Als Resultat steht am Ende, neben dem intimen Einblick in das Leben und Werk eines sympathischen, alten Liebhabers hoher Künste, ein wehmütig-süßer Blick auf vergangene Zeiten und ihren Bildern und Tönen, die auf diese Art und Weise von einem neuen, jungen Publikum wieder entdeckt werden können. So werden neben den Augen schließlich auch die Ohren mit so einigen Schmankerln aus den Schatzkisten des Bebop verwöhnt, die, kombiniert mit den kraftvollen Fotografien, für ein berauschendes >Rendezvous der Sinne< sorgen. Seine angenehm un-elitäre Sichtweise macht den Film nicht nur für den Jazz-Afficionado interessant, vielmehr können auch dem Jazz nicht abgeneigte, wenn auch nicht drauf spezialisierte, junge Kinogänger, so wie der Autor dieser Zeilen etwa, einen kleinen Hauch des Geschmacks auf der Zunge schmecken, der die hier fotografierten jungen Musiker - noch weit vor der Revolution des Rock'n'Roll - lebenshungrig nach der Welt greifen lies. Ein schöner Film über die kleinen Augenblicke, die sich niemals wiederholen. Denn das geht schließlich nur im Film.

Jazz Seen
Deutschland 2001
Regie und Buch: Julian Benedikt
Kamera: William Rexer, Matthew J. Clark.
Im Verleih der Edition Salzgeber

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