Das Schreckgesicht des amerikanischen Traums

Einer der drei großen Gangsterfilme der dreißiger Jahre (1932). Nach Mervyn Le Roys Little Caesar (1930) und William A. Wellmans The Public Enemy (1931) kann Scarface in der thematischen Entwicklung, Bildsprache und den Handlungsmustern als vorläufige Quintessenz des Gangster-Films jener Jahre gelesen werden. Das für damalige Verhältnisse äußerst gewalttätige Porträt einer Verbrecherkarriere, wie sie im Chicago der Prohibitonsära an jeder Straßenecke wuchert, ist zugleich ein nihilistisches Sittengemälde des amerikanischen Traums. Es ist das böse Märchen vom Aufstieg des unbedeutenden Habenichts zum mächtigen Selfmademan, von Regiemogul Howard Hawks nach der authentischen Lebensgeschichte Al Capones gedreht.

Capones Alter ego ist Tony Camonte (Paul Muni), die Schande der Nation, wie es im Untertitel inkriminierend heißt. Sein mit Leichen gepflasterter Weg führt Camonte bis an die Spitze der organisierten Kriminalität. Ausschließlich seinem persönlichen ´moralischen´ Code verpflichtet, schießt er sich heraus aus aus dem engen Korsett des Hinterhofproletariats. Nicht ohne Sympathie für die Figur, liefert Hawks das Psychogramm eines scheinbar chancenlosen Verlierers mit Frankensteinattitüde, der auf schmalem Grat wandert (in einer Nebenrolle übrigens der Ur-Frankenstein Boris Karloff). Notorisch kaltblütig und machtversessen, zeigt sich in Scarface das unzureichend Unterdrückte, Triebhafte der amerikanischen Erfolgsgeschichte – wie Truffaut später herausfand, dirigierte der Regisseur seinen Hauptdarsteller bewusst so, dass dessen Habitus dem eines Affen glich.

Jedoch: die beinahe kindlich anmutende Skrupellosigkeit, mit der er dabei dem persönlichen Erfolg nachhilft, lässt den Gangster mehr und mehr als janusköpfiges Zerrbild erscheinen. Hitzköpfig und naiv in seinem Verhalten, offenbart sich Tonys innere Zerissenheit im manischen Rhythmus seiner Schandtaten. Tonys Drang nach Anerkennng ist ebenso groß wie die tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit. Erkauft wird beides mit dem Schießeisen. In Camontes Händen ist die Waffe aber nicht bloß kaltes Machtinstrument, sondern vielmehr mächtiges Spielzeug. Die Bleispritze, wie er sie selbst nennt, zerreißt förmlich den dürren Firniss seiner zivilen Natur und lässt die Widersacher wie Spielfiguren fallen.

Immer wieder wird das X als Zeichen der Auslöschung im Film sinnfällig; als omnipräsentes Todessymbol zeichnet es den Schrecken anarchischer Gewalt. Ganz besonders deutlich klafft es in Gestalt einer kreuzförmigen Narbe auf Tonys Wange. Mit diesem sichtbaren Symptom, der Narbe als aufbrechender Oberfläche und Drohgebärde seines chaotischen Inneren, verbleibt das Stigma des primitiven Triebmenschen permanent im Raum. Ja, das X strukturiert den Raum förmlich, denn überall wo Tony ist, widerstreiten rücksichtslose Eigenliebe und der unmerkliche Griff der Fremdbestimmung, horizontale und vertikale Gewalt. So wird die Waffe zum Petitionsinstrument gesellschaftlicher Anerkennung.

Erst schießend und mordend fühlt Camonte sich von der Masse wahrgenommen. Dabei gilt die Formel: umso größer der Widerstand, umso steiler der soziale Aufstieg. Bevorzugte Orte dieses Ermächtigungsdramas sind die Society-Clubs: ihr Zutritt ist gleichbedeutend mit dem Einlass an die Fleischtöpfe der hedonistischen Oberschicht. Nicht zufällig eröffnet der Film mit einer Szene, in der Tony seinen Boss, einen Clubbesitzer erschießt, um später selbst an dessen Stelle zu treten. Eine frühe Schlüsselszene, denn wer über die Vergnügungstempel verfügt, der steht an der Spitze des patriarchalisch organisierten Verbrechens – und wird somit selbst zur Zielscheibe der Gierigen. Je gewaltiger der Erfolg, desto einsamer der tiefe Fall. Als sozialer Typus repräsentiert der Gangster daher eine nach oben offene, zugleich immens labile Geometrie, die nur in die (Selbst-) Vernichtung führen kann. Hierfür schafft der Club als phantasmatischer Verwirklichungsraum, sozusagen als dreidimensionales X, die ideale Atmosphäre von Begehren und Befriedigung, von Auf- und Abstieg, kurz, das schnellebige Biotop der kriminellen Existenz.
Die Diagnose, die Hawks mit Scarface stellt, zeigt demnach zweierlei: zum einen bleibt Tony Camonte der Prototyp des glückshungrigen Tatmenschen, der seit jeher eine ureigene Faszination auf die amerikanische Nation ausübt. Andererseits übernimmt er die Rolle des kriminellen Renegaten, der keiner Ideologie außer dem persönlichen Erfolg verpflichtet ist. Indem er sie zynisch übersteigert setzt Tony die Funktionsmechanismen der amerikanischen Leistungsgesellschaft außer Kraft, geradezu beispielhaft für die Zeit der wirtschaftlichen Depression. Von der mafiösen Parallelwelt fasziniert, wird ihm der kompromisslose Opportunismus zur Selbsthilfe, zum Überlebenszwang; vom Erfolg geblendet kennt seine Brutalität keine Grenzen. Schlussendlich leuchtet über allem nur noch die betäubende Reklameschrift der Maßlosigkeit auf: „Die Welt gehört Dir!“

Als Reaktion auf die staatliche Bevormundung der Prohibiton und die von oben verordnete politische Erneuerung des New Deal, stellt der Gangster die verfassungsgemäßen Heilsversprechen massiv in Frage. Von den äußersten Rändern der Gesellschaft kommend, bleibt der Mafioso ein klassischer Kulturverlierer und entwickelt sich insbesondere auf der Leinwand zum Phänotyp des zivilen Schreckgespenst jener Jahre. Allerdings ist die kinematografische Darstellung des exzessiven Gewaltverbrechers für die damalige Zeit noch keineswegs selbstverständlich. Dem heutigen Betrachter dieser Filme mag es deshalb verwundern, wenn das, was wir heute bedenkenlos als Kapriolen eines filmischen Genres akzeptieren, damals durchaus als ästhetische Provokation auftrat. Umso aufschlussreicher wirken die ausführlichen Einleitungen, die allen drei Filmen vorausgehen. Exemplarisch erklärt etwa Hawks seinem Publikum Scarface als Anklage zeitgenössischer Missstände und warnt vor der gesellschaftlichen Bedrohung durch das Gangwesen („This picture is an indictment of gang rule…“). Soll mit dieser Art filmdidaktischer Präambel der Kriminalfilm aber nun als tatsächliche Sozialkritik verstanden werden, oder handelt es sich eher um eine populistische Entfiktionalisierung, sozusagen einen pseudodokumentarischen Marketinggag? Immerhin will Hawks sein Milieudrama angeblich als Aufforderung zur Auseinandersetzung mit der Frage verstanden wissen, was jeder Einzelne, aber auch die Regierung gegen das Phänomen der Bandenkriminalität tun könne („What are you going to do about it?“). Der Gangsterfilm als volkspädagogisches Kunstwerk?

Werfen wir dazu einen kurzen Blick auf die Charakterentwürfe, die den jeweiligen Figuren zu Grunde liegt. Im Gegensatz zu Little Caesar und The Public Enemy, scheint doch zunächst in der Figur Camontes, nicht gerade eine alternativlose Form des Sozialdarwinismus durch. Immer bleibt seine naive Brutalität von einer provinziellen Ungestümheit getragen, klafft ständig die Hilflosigkeit eines Mangelwesens hervor. Den egomanischen, an die caesarische Willkür erinnernden Typus verkörpert schon eher Rico: ein Parvenue ohne Herkunft, ohne Familie, dafür von Allmachtsphantasien besessen und im wahrsten Sinne asozial.

Ganz anders Tom Powers. Ihn sehen wir als halbstarkes Scheusal, der, auf die väterlichen Prügelstrafen, mit ersten kleinen Gaunereien antwortet und schließlich zur gefürchteten Halbweltgröße aufsteigt. Das Wellman dem zeitgenössischen Publikum diese misslungene, sozialisatorische Vorgeschichte zeigt, darf jedoch nicht als Sympathie für seinen Protagonisten missverstanden werden. Im Gegenteil: die Wirkungslosigkeit autoritärer Maßregelung soll Powers als per se gescheitertes, nicht-sozialisierbares Individuum dämonisieren. Indem Wellman die Figur derart im Rahmen einer reaktionären Sittenmoral aburteilt, entwirft er gleichzeitig den Gangster als anti-sozialen Typus.

Dagegen sind Wesen und Verhalten Camontes weitaus weniger eindimensional angelegt. Liegt doch die Stärke von Hawks Figurenzeichnung in ihrer exakten, schonungslosen Psychologisierung, die eine unzweideutige Typbestimmung erschwert. Es ist wohl nicht abwegig, hierin eine Anleihe an Fritz Langs ungewöhnlich differenzierte Charakterstudie des Kindermörders in „M“ -Eine Stadt sucht einen Mörder zu sehen. Zumal beide Regisseure ein tabuloses Interesse am Innenleben ihrer Protagonisten mit all seinen Brüchen verbindet.
So unterscheidet Camonte vor allem eine kaum wahrnehmbare Verletzlichkeit, die ihn die Familie fliehen lässt und die, neben all dem Blutrausch, immer dann durchbricht, wenn Tony auf seine Schwester Cesca trifft. Sie liebt er mit nachgerade inzestuösem Furor. Nur von ihr fühlt er sich verstanden. Auch sie flieht vor der überbesorgten Mutter ins Halbweltmilieu und. sucht dort, bei den zwielichtigen Machismos, die Liebe, die sie zuhause nicht findet. Rasend vor Eifersucht unterbindet Tony ein ums andere Mal ihre gefährlichen Amouren.

Seine eigene Liason mit Poppy ist ebenfalls purer Narzissmus. Zuvor hat er sie Johnny Lovo, dem Chef des Syndikats, ausgespannt. Vor allem ihr sozialer Tauschwert macht sie für ihn attraktiv, nach der Formel: wer die Frau des Chefs besitzt, sitzt auch bald auf seinen Stuhl. Derweil wirft Cesca sich direkt in die Arme Guido Rinaldos. Damit zerstört sie Tonys verzweifelte Bemühungen um eine Familie, denn Guido wird nun vom Paladin zum Nebenbuhler um die Liebe der Schwester. Schließlich reißt Tony nicht nur ihn, sondern auch Cesca in einem gemeinsamen, letzten Versuch der Selbstbehauptung mit in den Abgrund.

Famos ist die verzweifelte Bildsprache, mit der Hawks diesen Untergang als finalen shootout zeigt: das Haus mit stählernen Fensterläden und Türeisen schwer verbarrikadiert, Maschinengewehre in den Händen, versuchen Tony und Cesca sich dem Eindringen der Polizei zu erwehren. Schutzlos, von allen Freunden verlassen versuchen die beiden das entbehrte Heim, die Familie, in diesem sehnsüchtigen wie aussichtslosen Akt der Weltflucht sich selbst zu sein. Die Auflehnung ist nur von kurzer Dauer, denn die geschwisterliche Trutzburg wird von der väterlichen Autorität regelrecht gestürmt. Einer Autorität, die bis dato nie existierte und die nun, in Form des Rechtsstaats, erbarmungslos zuschlägt.

Überdeutlich demaskiert jene gescheiterte Suche nach familiärer Geborgenheit die gegenläufigen Motivationen von individueller und gemeinschaftlicher Ökonomie. Besitzt doch die sogenannte Mafiafamilie, das Potential, den vermeintlich egalitären Rahmen der politischen Ordnungsgewalt durch ihre patriarchalische Organisation zu unterlaufen. Mit ihrer tödlichen Personalfluktuation ist die Gang in Wahrheit nicht viel mehr als ein sozialer Verdichtungsraum, eine schlichte Pervertierung bürgerlicher Familienverhältnisse. Die Generationen wechseln hier im Zeitraffer. Im ödipalen Subtext der Erzählung ist dieser ökonomische Verdrängungswettbewerb ablesbar. Eine befriedigende Identität stellt sich vermeintlich nur durch den Mord an den Vaterfiguren ein. Zurück bleiben allerdings verstörte Söhne, die bindungs- und beziehungslos durch ihr erträumtes Ich stolpern.

Ähnlich der volkstümlichen Erzählung übernimmt der frühe Gangsterfilm, ob nun populistisch oder sozialkritisch gefärbt, durchaus kulturstiftende Funktion. Seine kathartische Wirkung besteht nicht zuletzt darin, dass der kriminelle Outlaw als systemgefährdender Anti-Heros durch die Einspeisung in die Bildmaschine Kino sogleich mythifiziert und in das System re-integriert wird. Ebenso wie im Westerngenre, vermag die Sprache des Mafiafilms auf diese Weise den gegenläufigen Tendenzen des amerikanischen Gemeinwesens zumindest auf der Leinwand ein Gesicht geben. Wenn es auch ein äußerst unansehnliches ist.

Scarface
(USA 1932)
Regie: Howard Hawks; Buch: Ben Hecht; Kamera: Lee Garmes & L. William O’Connell; Schnitt: Edward Curtis
Darsteller: Paul Muni, Ann Dvorak, Karen Morley, Osgood Perkins, C. Henry Gordon, George Raft, Vince Barnett, Boris Karloff
Länge: 93 Minuten
Verleih: United Artists

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Christoph Cöln

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