Zwei Filme von John Cassavetes

Die Kamera rückt dem Stripclub-Besitzer Cosmo Vitelli der Hauptfigur von Cassavetes „Mord an einem chinesischen Buchmacher“, so dicht auf den Leib, dass über weite Strecken unklar bleibt, mit wem er redet oder wo er sich bewegt. mord.jpgEin großer, Sicherheit stiftender Überblick wird dem Zuschauer selten gegönnt, wir sind der Hauptfigur bedingungslos ausgeliefert. Ganz anders in „Die erste Vorstellung“: Aus dem Zuschauerraum beobachtet der Zuschauer eine Bühne, auf der die Theaterikone Myrtle Gordon mit ihrem Kollegen Maurice agiert. Die Gesichter der Schauspieler bleiben unscharf, die Perspektive gestattet keine Intimität, sie ist keine exklusive: Der Zuschauer ist nur einer von vielen im Auditorium.

So unterschiedlich Cassavetes die Zuschauerrolle in beiden Filmen auch definiert, so ähnlich sind sich beide: Die zunächst gewählte Perspektive wird aufgelöst, das Bild, das sich der Betrachter machen konnte, einer Umdeutung unterzogen. Während sich der Zuschauer in „Mord an einem chinesischen Buchmacher“ von dessen Hauptfigur emanzipiert, eben jene Erkenntnis gewinnt, der sich Cosmo bis zum Schluss verweigert, wird er in „Die erste Vorstellung“ gezwungen, sich dem Objekt seines Blicks, der Schauspielerin Myrtle, soweit anzunähern, das jegliche bequeme Distanz verschwindet, die Zuschauerperspektive ihre Unschuld verliert.

Zu diesem Erkenntnisgewinn sind Cassavetes’ Hauptfiguren zunächst nicht befähigt: Cosmo Vitelli ist ein Träumer, ein Verlierer, der sich ganz im Stile der Filme der „Schwarzen Serie“ zum großen Zampano des Nachtlebens stilisiert. Die Mädchen, die in seinem Club arbeiten, sind sonst überall abgeblitzt, sehen zu ihrem Arbeitgeber auf wie zu einem Vater und in dieser Rolle fühlt sich Cosmo sichtlich wohl. Allerdings bräuchte er selbst jemanden, der auf ihn aufpasst, denn sein Blick für die Realität ist mehr als getrübt. So verprasst er in großem Stile Geld beim Glücksspiel und verschuldet sich bis zum Hals bei Leuten, die Auftragsmorde und Erpressung nicht nur aus dem Kino kennen. Cosmo wird erst zum Mörder und dann schließlich selbst zum Gejagten. Bis zum Schluss scheint er nicht zu erkennen, dass er am Ende seines Weges angelangt ist. Er ist ein Schauspieler, der vergessen hat, dass der letzte Vorhang längst gefallen ist.

erstevorstellung.jpgMyrtle hingegen ist eine gefeierte Bühnenlegende. Gerade steht sie im Stück „Second Woman“ – der Titel wird programmatisch für den ganzen Film – auf der Bühne, das ihr förmlich auf den Leib geschrieben wurde und von einer Frau handelt, die unter ihrem zunehmenden Alter zerbricht. Für Myrtle wird die Verkörperung dieser Frau zur Zerreißprobe, denn die Grenzen zwischen Bühne und Realität verschwimmen, je mehr sie sich ihrer Rolle annähert. Myrtle wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die Erkenntnis, dass die Geschichte der „zweiten Frau“ auch die ihre ist, und stürzt sich geradewegs in Psychosen und Suff. Zur großen Premiere des Stückes in New York bahnt sich die Katastrophe an, als Myrtle sturzbetrunken auf die Bühne wankt und das Stück einer radikalen Neuinterpretation unterzieht, einer Neuinterpretation, die für die Schauspielerin zur Therapie wird.

„Mord an einem chinesischen Buchmacher“ und „Die erste Vorstellung“ sind äußerst schmerzhafte Erlebnisse für den Zuschauer. Wir sehen, welchen verhängnisvollen Weg Myrtle und Cosmo einschlagen, sind jedoch zum bloßen Zuschauen verdammt. So nah wir den Figuren auch kommen, wir werden von Cassavtes immer auf die unüberwindbare Barriere zwischen Zuschauerraum und Filmwelt gestoßen. Umso erstaunlicher, dass Cassavetes diese Macht nicht über Gebühr strapaziert: Sowohl der Clubbesitzer Cosmo als auch Myrtle finden am Ende der Nacht ihren Frieden, besiegen ihre Dämonen auf ihre Art und Weise. Doch dieses Happy End bleibt den Hauptfiguren vorbehalten: Wir haben zu diesem Zeitpunkt längst zu viel gesehen, um uns so einfach blenden zu lassen. Die totale Affirmation gibt es nicht, am Ende bleibt uns nichts anderes übrig, als loszulassen und Cosmo und Myrtle das Leben leben zu lassen, das sie gewählt haben.

Mord an einem chinesischen Buchmacher
(The Killing of a Chinese Bookie, USA 1976)
Regie: John Cassavtes, Drehbuch: John Cassavetes, Kamera: Mitchell Breit, Al Ruban, Musik: Bo Harwood, Schnitt: Tom Cornwell
Darsteller: Ben Gazzara (Cosmo Vitelli), Timothy Carey (Flo), Seymour Cassel (Mort Weil), Robert Phillips (Phil), Morgan Woodward (John)
Länge: 129 Minuten
Verleih: Koch Media

Die erste Vorstellung
(Opening Night, USA 1977)
Regie: John Cassavetes, Drehbuch: John Cassavetes, Kamera: Al Ruban, Musik: Bo Harwood, Schnitt: Tom Cornwell
Darsteller: Gena Rowlands (Myrtle Gordon), John Cassavtes (Maurice Aarons), Ben Gazzara (Manny Victor), Joan Blondell (Sarah Goode), Paul Stewart (David Samuels)
Länge: 139 Minuten
Verleih: Koch Media

Zu den DVDs von Koch Media

Koch Media präsentiert beide Filme in wunderschönen Editionen im mattierten Pappschuber mit Hochglanzfoto. „Mord an einem chinesischen Buchmacher“ wird als Doppel-DVD verkauft, die zweite Disc enthält darüber hinaus den 200-minütigen Dokumentarfilm „A Constant Forge – The Life and Art of John Cassavetes“ über den Filmemacher John Cassavtes. Beiden DVDs liegt außerdem ein 16-seitiges Booklet mit einem kenntnisreichen Aufsatz von Sascha Westphal bei. Bild- und Tonqualität sind in beiden Fällen absolut berauschend und machen diese beiden Veröffentlichungen zu absoluten Pflichtanschaffungen.

Zur Ausstattung der DVDs:

Mord an einem chinesischen Buchmacher
Bild: 1,85:1
Ton: Dolby Digital 2.0
Extras: Bonusfilm „A Constant Forge – The Life and Art of John Cassavetes“
Länge: 129 Minuten
FSK: Ab 12
Preis: 15,95 Euro

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Die erste Vorstellung
Bild: 1,85:1
Ton: Dolby Digital 2.0
Extras: keine
Länge: 139 Minuten
FSK: Ab 12
Preis: 14,95 Euro

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