Gangs of Rio de Janeiro

Schwarze Leinwand, wirbelnde Rhythmen, – Schnitt –, ein Messer zerschneidet das Dunkel, sogleich wieder von der Schwärze verschlungen, – da! – wieder! Es wird gewetzt, in der Detailaufnahme, geschärft wie unser Blick, dieser muss sich zurecht finden in der schnellen Monatge, im schnellen Bildersturm des Films – mitten in der Vendetta! Oder etwa doch nicht? Das Messer wird gewetzt – soviel ist sicher, das haben wir gesehen -, nicht aber um Menschenkehlen zu schlitzen, nein, ein Huhn soll dran glauben! Ein ausgelassenes Fest! Singende Menschen, fröhliche Menschen, keine Vendetta, nirgends. Oder etwa doch nicht? Das Huhn flieht, konsterniert ob des Schicksals, es wird gejagt, Schusswaffen werden wie beiläufig den Bildkader getragen. „Holt das beschissene Huhn zurück! Knallt es ab!“ Dann plötzlich die Gewalt, Menschen werden umgerannt, die zuvor Lachenden, ganz schön aggressive Schweine sind das. CITY OF GOD spielt im wesentlichen mit den zwei Wahrnehmungsebenen eines Bildes: dem Bildinhalt als solchen und dem Kontext, in dem dieser formuliert wird. Was hier, in wenigen Sekunden, mittels hektischer Einstellungen und Schnitte kommuniziert wird, ist nichts weniger als das strukturelle Konzept des Filmes: Das Spiel mit dem scheinbar eindeutigen Bild und seiner nicht ganz so eindeutigen Aussage. Wir befinden uns auch gar nicht am Anfang der Erzählung, stehen vielmehr am Anfang vom Ende des Films, sehen die bis an die Zähne bewaffneten Menschen vor uns noch mit unschuldigem Blick, wissen nicht um ihre Geschichte. Dann also der Sprung um 10 Jahre zurück, ins Jahr 1968, an den Beginn des Ganzen. Wie entwickelten sich die Fronten, deren Zeuge wir gerade wurden? Füllen wir die Menschenhülsen auf der Leinwand mit Biographie, ergänzen wir den Bildersturm um Kontext!

Der Titel lässt schon drauf schließen: eigentliche Hauptdarstellerin des Films ist die „Cidade de deus“, die „Stadt Gottes“, die favelas Rio de Janeiros, weit weg von den Postkartenkulissen für die Touristen. Geschichte eines Molochs über die Dekaden, bestimmende Szenerie unzähliger sozialer Implikationen, darinnen zwei Lebensläufe, zwei Epizentren, um die sich alles kreisen wird, zu denen jeder der ausufernden Mäander der Geschichte – derer wird es viele geben! – zurückkehrt: Buscapé, der Ich-Erzähler, der alles weiß, selbst das, was er nicht miterlebt haben kann (auch hier wieder: das eingangs erwähnte Spiel), und der etwas jüngere Locke. Der ältere Bruder des ersteren dreht mit den „Wild Angels“ das eine oder andere, mehr oder weniger harmlose Ding, Locke, damals noch Löckchen, will als keiner Steppke zu den pubertierenden Gangstern dazugehören. Während des ersten großen Coups, entdeckt Löckchen für sich die rauschhafte Lust am Töten allein des Blutvergießens wegen, und läutet somit – jetzt sind die Bullen denkbar scharf auf die „Wild Angels“, infiltrieren die cidade de deus – das Ende der Jugendgang ein. Mit seinem nicht minder jungem Freund Benné beginnt Löckchen eine einzigartige Karriere – in der Tat wird allein schon durch die Wahl der Terminologie der Drogenhandel mit den Bedingungen der freien Marktwirtschaft gleichgesetzt. Binnen weniger Jahre ist er, gerade mal 18, die größte Nummer in den favelas, kontrolliert den Drogenhandel der meisten Bezirke. Während Benné am Höhepunkt aussteigen will, mit seiner Freundin, abgesichert durch den angehäuften Reichtum, ein relaxtes Leben auf einer Farm verbringen möchte, kann, nunmehr, Locke von der Gewalt nicht ab – Macht um der Macht willen, ist’s was zählt, Bereicherung ist zweitrangig: Die anderen Bezirke müssen ebenfalls in seinen Besitz, allein Bennés protegierende Hand – „Lass’ die doch, die sind okay!“ – versperrt den Zugriff. Dieser Machtrausch bleibt nicht ohne Folgen. Als Benné Opfer eines Attentats wird überschlagen sich die Ereignisse, die Wünsche und Sehnsüchte der Einzelnen katapultieren sich gegenseitig in einen kaum mehr überblickbaren Bandenkrieg, dessen Gegenstand allein die Vernichtung der jeweils anderen Partei ist. Gott hat seine Stadt verlassen.

Mit dieser Karriere stets verknüpft ist die des Erzählers Buscapé, der vor allem sauber bleiben und Pressefotograf werden möchte. Dass das ein großer Traum für ein Ghettokid ist, ist kaum von der Hand zu weisen, dennoch verfolgt er beharrlich sein Ziel, von einigen, eher ungelenken Ausflügen ins kleinkriminelle Milieu und dem ein oder anderen Joint mal abgesehen. Dass ihn dieses nicht unbeeindruckt lassen kann, dafür sorgt allein schon die Tatsache, dass er in den von Locke beherrschten favelas lebt. Dass er zudem fotografieren kann und es Locke narzistisch umtreibt, dass zwar sein Konkurrent in den Zeitungen abgebildet ist, nicht aber er selbst, sorgt für nicht wenige Implikationen.

Man sieht sich in den wenigen Zeilen, die einem hier zur Verfügung stehen, notgedrungen dazu gezwungen, die Synopse auf wenige Personen zu reduzieren, was nicht etwa verschleiern soll, dass es in CITY OF GOD eine Vielzahl von hier unerwähnten Charakteren gibt, die allesamt dramaturgisch eine Rolle spielen, dass CITY OF GOD ein Konzert verschiedenster biographischer Verquickungen darstellt, deren Spiralenförmigkeit in die dramatische Katastrophe führt, in deren Mittelpunkt die beiden genannten Solisten stehen. Immer wieder bricht der Film die narrative Chronologie, konzentriert sich auf Nebenschauplätze, auf Nebendarsteller, deren Geschichte – wie Buscapé im Off erwähnt – erst später erzählt würde, erhellt die Biographien der Einzelnen und entwickelt dergestalt ein hochkomplexes, nie aber unüberschaubares Portrait eines Milieus, in der die Gewalt Bestandteil des Alltäglichen geworden ist. Wenn auch ästhetisch kaum vergleichbar – dafür fehlt allein schon die katholische Mythologie als Background -, so ist der Film motivisch den besseren Mafiafilmen Scorseses nicht unähnlich, ohne aber ein bloßes Plagiat darzustellen. Dafür ist der Film mit seinen Freeze Frames, der schnellen, dynamischen Handkamera und dem wilden Schnitt auch rein formalästhetisch schon viel zu weit weg von Scorsese’scher Epik.

Natürlich ist es schwer, bei einer solchen Fülle an Personen, einer solchen Beliebigkeit der Gewalt, Emphatie für Einzelne aufzubauen. Es ist dies aber auch gar nicht Zweck des Films: Nicht die Tragödie des Individuums wird beklagt, eine Spirale urbaner Gewalt wird – ohne zu moralisieren – nachgezeichnet, deren Ende sich nicht notgedrungen mit dem Ende des Films deckt. Eher noch deuten die finalen Bilder an, dass es jenseits des Abspanns noch weit schlimmeres zu erzählen gäbe. Dass der Film dabei eine gewisse, angenehm unaffektierte Ästhetik der Coolness entwickelt, hat vereinzelt zu Unkenrufen geführt, ist aber leicht verzeihlich: Wenn man, neben der Tatsache, dass sich alles im Kontext entwickelt, dass es im Fluss der Dinge nichts atomisiert für sich Stehendes gibt, eine Lektion aus dem Film ziehen möchte, dann die, dass jedem massenmedial publizierten Bild ein Fertigungsprozess zugrunde liegt – nicht zuletzt Buscapés Karriere als Fotograf belegt dies -, der immer auch aufgrund seiner Ökonomie bis zum gewissen Grad verfälscht, sich selbst im Bild – oder im Bild wesentliches – ausblendet, sich gar für nichtig erklärt und stets im Kompromiss zum Authentischen steht. Wie man, wie andernorts geschehen, dem Film unterstellen kann, dass er – aufgrund der gewählten Stilmittel der Sexiness und der Coolness – das, von dem er erzählt, auch als sexy und cool behauptet, ist – angesichts der steten Bildbrüche, die CITY OF GOD fabrizert, der steten Zweifel an der Aussagekraft der Bilder – nur schwer begreiflich.

Und weil der Gerechtigkeit genüge geleistet werden muss, sei’s zum Ende hin auch noch mal, zugegeben, gänzlich platt formuliert: CITY OF GOD ist eines der ganz großen Meisterwerke dieses Kinojahres – wildes, unbekümmertes, inspirierendes, euphorisierendes Kino der Extraklasse. Unbedingt ansehen!

City Of God
Cidade de Deus, Brasilien 2002
Regie: Fernando Meirelles/Kátja Lund
Drehbuch: Bráulio Mantovani
Kamera: César Charlone
Schnitt: Daniel Rezende
Darsteller: Matheus Nachtergaele, Seu Jorge, Alexandre Rodrigues,
Leandro Firmino da Hora, Philippe Haagensen,
Johnathan Haagensen, Douglas Silva, u.a.

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