Ganz Zion tanzt den Lipsischritt

Das mittlere Kind, so heißt es, genießt am wenigsten von der elterlichen Zuwendung. Während das älteste und mittlerweile fast erwachsene Kind die Hoffnungen, die man in es gesetzt hat, schon sichtbar erfüllt (wer weiß: wäre es ein Versager geworden, hätte man vielleicht keine weiteren geplant) und das jüngste, vielleicht noch nicht geborene aber schon geplante, neues Elternglück verheißt, wird das Kind in der Mitte zu dem, mit dem sich keine großen Hoffnungen verbinden. Es ist einfach nur da – um eine Brücke zwischen dem Erstgeborenen und dem Nesthäkchen zu bilden. Was so als elterliches Selbstverständnis wohl allenfalls ein Vorurteil ist, scheit für Filmtrilogien nicht selten zuzutreffen. In Matrix Reloaded zeigen sich viele Probleme des mittleren Kindes.

Die Crew der Nebukabnezar hat in den Monaten seit der Entdeckung von Neo mehr Menschen aus der Matrix befreit als in den Jahren zuvor. In der geheimen und abgeschirmten Stadt Zion wird der Senat darüber informiert, dass 250.000 Matrix-Sonden die Stadt angreifen. Die einzige Chance auf Rettung liegt in der Befragung des Orakels, zu dem Neo Kontakt aufnimmt. Er erfährt, dass das zentrale Programm der Matrix stillgelegt werden muss und dass dafür nur wenig Zeit bleibt. Doch zunächst muss jemand gefunden werden, der Zugang zum Zentrum der Matrix zu verschaffen vermag: Der Schlüsselmacher. Dieser befindet sich jedoch in der Gewalt des Merowingers, eines sehr mächtigen "Programmierfehlers" der Matrix. Bei der Befreiung des Schlüsselmachers begegnen Neo, Trinity und Morpheus einer neuen Art Agenten, die unbesiegbar scheinen. Zudem hat der ehemalige Matrix-Agent Mr. Smith einen Weg gefunden, aus dem "Staatsdienst" auszutreten und sich selbst beliebig oft zu vervielfältigen. Auch er ist Neo auf den Fersen. Und als wäre das alles noch nicht genug, offenbart ihm einer seiner Träume, dass Neo Schuld am Tod von Trinity tragen soll. Auch dies gilt es obendrein noch zu verhindern.

Matrix Reloaded nimmt sich viel vor – ein bisschen zu viel. Zunächst müssen die aus dem ersten Teil gerühmten Spezialeffekte ("Bullet Time", …) getoppt werden, dann gilt es, noch furiosere Kampf-Szenen zu inszenieren. Darüber hinaus muss aber auch die Erzählung des Films weiter gesponnen werden. Und genau damit hat Reloaded die größten Probleme. Der Film muss fortführen, was The Matrix 1999 begonnen hat, darf dies jedoch zu keinem Ende bringen, da ein dritter Teil von The Matrix (\"The Matrix Revolutions\") folgen wird. So werden etliche Erzählstränge zwar aufgenommen aber am Ende des Films wieder fallen gelassen: Die Bestimmung Neos als "Der Auserwählte", die Liebesbeziehung zu Trinity, der Sieg über all die Gegner in der Matrix (Mr. Smith, …) und zuletzt natürlich die Befreiung der Menschen.

Nun wäre das sicherlich für einen Film zu leisten, wenn er nicht daneben ständig ein "metaphysisches Projekt" zu verfolgen versuchte. Die philosophisch doch einigermaßen interessante Metaebene von The Matrix gerät in Reloaded zu reiner Behauptung und wird schließlich durch eine Mixtur aus Grals-Erzählung und Variation abendländischer Religionsstiftungserzählung ausgetauscht: Neo fliegt als der Auserwählte durch die Gegend (innerhalb des Computerprogramms Matrix sogar wie Superman – mit schwarzem Cape), in Zion entwickelt sich um ihn herum ein Kult, ja eine richtige Religion und Morpheus entpuppt sich als demagogischer Prophet. Sogar eine religiöse Orgie wird in Zion anlässlich der nun bald anstehenden Befreiung vom malus ex machina gefeiert.

Ja, und dann ist da natürlich auch noch der Verschwörungsdiskurs, der weiter bedient werden muss, weil er ja schließlich den Kern der erzählerischen Behauptung der Trilogie darstellt. Hier hat der erste Teil eine Steilvorlage gegeben, die Matrix Reloaded nicht verwandelt kann: Dass die Menschheit von Computern als Batterien gehalten wird und mit einem virtuellen Leben implantiert ein Dasein in Gefangenheit fristet, ist bekannt. Nun muss das Zentrum dieser Verschwörung weiter durchleuchtet werden. Da tauchen dann "Programmierfehler" auf, Anomalien innerhalb des Programms selbst, die die Fehlfunktionen erklären. Es gibt vom Programm unabhängige Subroutinen, wie uns und Neo das weise Orakel aufklärt, das selbst ein solcher Programmierfehler ist. Diese sind mal wohlwollend (Das Orakel), mal feindlich (Mr. Smith, der Merowinger) und mal nützlich, um die Matrix zu bekämpfen (Der Schlüsselmacher) und schließlich sogar allmächtige Fädenzieher (Der Architekt). Neo – natürlich ebenfalls nur eine Anomalie des Programms – ist gezwungen, diese Programmierfehler zum Kampf gegen die Matrix einzusetzen. Zu guter Letzt gelangt er zwar ins Zentrum der Verschwörung und zum Endgegner, doch steht diesem macht- und verständnislos gegenüber. Und das alles nur, um die Behauptung der Matrix plausibel zu machen.

Doch der Film nimmt sich in all dem zu viel vor: Zu viel Verschwörung, reichlich zu viel Mystizismus, zu viele Spezialeffekte und viel zu viele Referenzen an Außerfilmisches. Man wird beim Zuschauen das Gefühl nicht los, sich in gleichzeitig in verschiedenen Filmen aufzuhalten: Matrix Reloaded kommt daher als Science Fiction mit Kung Fu-Film-Ambitionen, als Liebesfilm, als Jesus-Film und als Phantasy-Sepktakel. Doch keines dieser Sujets wird gewinn bringend ausgespielt. Alles bleibt in Andeutungen (wohl, um dem dritten Teil nicht vorzugreifen). Und ganz so, als müsse Matrix Reloaded dem Publikum die Zeit bis zum Finale im dritten Teil "totschlagen" wartet der Film mit unerträglichen Längen auf, die zudem noch durch Zeitlupen gestreckt werden: Allein die Tanzorgie in Zion ist in Art, Weise und Zeitverbrauch ihrer Inszenierung völlig unproportional.

Aber das ist wohl das Schicksal eines zweiten Teils, der auf den dritten warten lässt. Er ist keine halbe und keine ganze Erzählung. Er wiederholt bekanntes und deutet unbekanntes nur an bzw. bereitet darauf vor. Und vor allem: Er soll den Zuschauer mit allen Mittel dazu bringen, wissen zu wollen wie es weiter geht. Deshalb ist wohl auch der Cliffhanger von Matrix Reloaded ist so brachial. Ob allerdings die hochdisparaten Elemente des Films diesen Cliffhanger nicht übertönen und den Zuschauer eher davon abhalten, wissen zu wollen, wie es mit Zion, Neo und der Matrix weiter geht, bleibt als Schlussfrage.

The Matrix Reloaded (USA 2003)
Regie & Buch: Andy & Larry Wachowski; Kamera: Bill Pope
Darsteller: Keanu Reeves, Carrie Ann Moss, Hugo Weaving, Laurence Fishburn u. a.
Warner Bros., 138 Minuten

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