Stunde der Unwahrheit

Serienmord und Medien gehören untrennbar zusammen. Nicht nur, weil der erste moderne Serienmordfall – der Jack the Rippers – nur werden konnte, was er war, weil zum ersten Mal die Boulevard-Presse über ihn berichtete; auch weil es die Medien überhaupt sind, die der Öffentlichkeit den Zusammenhang stiften, der aus Einzeltaten eine Mordserie macht. Der Begriff Serienmord existiert also in zwei Sphären: Zum einen in der Welt der Kriminologen und Kriminalisten, die streng differenzierbare Kriterien zum Erkennen und Methoden zur Ergreifung des Täters suchen, zum anderen als Diskurs in der Öffentlichkeit, initiiert durch Berichterstattung, angereichert mit Mythen, Vorurteilen und Ängsten. Als der Serienmörder Pedro Alonzo López 1980 gefasst wurde, war der Aufschrei über seine Taten (hunderte ermordete Kinder in Peru, Bolivien und Equador) enorm. Doch wie schon der finguierte Killer in „Antikörper“ richtig feststellte: nachhaltiges Medienecho blieb dem Fall López verwährt, während über Jack the Ripper immer noch eifrig spekuliert wurde. Der ecuadorianische Filmemacher Sebastián Cordero hat nun Abhilfe geschaffen und scheinbar einen Film über López gedreht – scheinbar.

Immer mehr Massengäber mit toten Kindern werden in Ecuador entdeckt. Die Presse spricht vom „Monster von Babahoyo“ und hysterisiert die Bevölkerung. Als wieder 12 im Schlamm verscharrte Kinder, um die 9 Jahre alt, entdeckt und anschließend beerdigt werden, kommt es zu einem Zwischenfall: Der Familienvater Vinicio (Damián Alcázar) überfährt den verbliebenen Zwillingsbruder eines der vom „Monster“ ermordeten Jungen, während dieser beerdigt wird. Als die Menge Vinicio daraufhin lynchen will, schreitet der TV-Starreporter Manolo Bonilla (John Leguizamo) ein – jedoch erst, nachdem er genug spekakuläre Aufnahmen des Übergriffs gemacht hat. Er rettet Vinicio zwar das Leben, kann jedoch nicht verhindern, dass die Polizei ihn ins Gefängnis steckt. Weil man, aufgestachelt durch die zahlreichen Kindermorde in der Gegend, immer noch nicht glaubt, dass Vinicio den Jungen aus versehen überfahren hat, fürchtet dieser um sein Leben. Er bittet Manolo bei einem Besuch im Gefängnis, eine Reportage über sein Schicksal zu drehen und in seiner Sendung „Stunde der Wahrheit“ zu senden, damit er freikommt. Als Gegenleistung bietet er dem Reporter angebliche Hintergrundinformationen zum „Monster“. Manolo lässt sich auf den Deal ein, erkennt jedoch zusehends, dass Vinicio Wissen über Taten besitzt, das nur der Mörder selbst haben kann. Als sich Manolo entschließt, Vinicio an die Justiz zu verraten, ist es zu spät: Die TV-Reportage über den zu Unrecht inhaftierten Unfallfahrer hat zu dessen Freilassung geführt. Vinicio ist nicht mehr zu finden.

An „Crónicas“ ist so ziemlich alles falsch bis auf zwei Dinge: dass es den Serienmörder Pedro Alonzo López, dier hier Vinicio Capeda heißt, wirklich gegeben hat und dass die Medien – allen voran das echtzeitversessene Fernsehen – oft genug moralische Mitschuld am Leid der Opfer haben. Mit und über Mörder lassen sich Geschichten erzählen und verkaufen – das hat nicht zuletzt das so genannte „Geiseldrama von Gladbeck“ gezeigt, bei dem 1988 vor laufender Kamera die Leiden einer entführten Frau zu Quote gemacht wurden. „Crónicas“ überspitzt diese Mitschuld der Medien, indem es einen von seiner eigenen Macht und Popularität völlig korrumpierten Fernseh-Journalisten vorführt, der einen Kindermörder deshalb nicht an die Justiz verrät, weil er vorher eine exklusive Reportage mit ihm produzieren will. Die „Story des Jahres“, wie er seinem Senderchef ankündigt, geht jedoch nach hinten los, gerade weil der Journalist so unglaublich engagiert ist. Hals über Kopf verlässt er das Land, weil er die Reaktionen der Bevölkerung, die er bei dem Beinahe-Lynchmord schon kennengelernt hat, fürchtet. (In einer alternativen Fassung schafft er es nicht und wird vom erzürnten Mob totgeschlagen.)

Corderos zweiter Film besticht vor allem durch seine Roheit und Wucht – man merkt die Unverbrauchtheit der Darsteller (abgesehen von John Leguizamo, der schon im größeren US-Produktionen vor der Kamera stand) und die Authentizität der Settings in jeder Einstellung. Die stets agile, oft taumelnd-wackelige Kamera leistet das ihrige, wenn das Chaos beschrieben werden soll, dass seinerzeit in Lateinamerika geherrscht haben muss. Seinerzeit? Eines ist sicher: Die Geschichte von „Crónicas“ spielt im Jetzt und keinesfalls in den frühen 1980er Jahren. Damals (oder in einem Film, der damals spielt), wäre die Rolle und der Einfluss des Fernsehens, wie es der Film vorführt und anprangert, kaum denkbar gewesen. Also wird der kriminalhistorische Fall 25 Jahre in die Zukunft verlegt und muss als Metapher herhalten – wie schon so viele Serienmordfälle vor ihm (zur Medienschelte hatte sogar Fritz Lang 1956 in „While the City Sleeps“ bereits einen authentischen Fall benutzt).

Hier muss man nun fragen, ob der Film nicht letztlich das, was er kritisiert, selbst ist: Ist „Crónicas“ aufgrund der Überformung der Fallgeschichte zugunsten einer medienkritischen Attitüde, die heute allenthalben zu sehen ist, nicht selbst so eine mediale Verzerrung, die die Wahrheit kretiv überformt, um eine Geschichte verkaufen zu können? Warum muss der Film gerade einen der grausamsten Serienmordfälle des 20. Jahrhunderts aspektieren, um seine Kritik anzubringen? „Nach einer wahren Begebenheit“ ist immer eine werbeträchtige Zeile für einen Serienmörderfilm – und findet sich auch auf der DVD zu „Crónicas“. Das, was Cordero mit seinem Film richtig mach – der Modus, in dem er erzählt, die Distanz, die er zu den Tätern behält und das Drama, das sich aus dieser Distanz entwickelt, wird durch dieses Heischen um Aufmerksamkeit zu Lasten der Aufrichtigkeit jedoch beinahe kompensiert.

Crónicas – Das Monster von Babahoyo
Regie & Buch: Sebastián Cordero, Musik: Antonio Pinto, Kamera: Enrique Chediak, Schnitt: Luis Carballar & Ivan Mora
Darsteller: Damián Alcázar, John Leguizamo, Walter Layana, Henry Layana, Tamara Navas u.a.
Länge: 98 Minuten
Verleih: Ascott/McOne

Die DVD von McOne

Die deutsche DVD enthält neben der deutschen DD 5.1-, einen spanischen und englischen DD 5.1-Spur sowie deutsche Untertitel. McOne hat der Veröffentlichung entliche Extras beigefügt, die unter anderem gelöschte und geänderte Filmszenen enthalten. Alle Extras sind mit einem Textkommentar des Regisseurs versehen.

Die Ausstattung der DVD im Einzelnen:

Bild: Widescreen (16:9)
Ton: DD 51. (deutsch, spanisch, englisch)
Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte
Extras: Making of, Alternatives Ende, Gelöschte Szenen, Interview, Soledad Jam Session, Trailer Ecuador/Cannes/US Kinotrailer

FSK: ab 16 Jahren
Preis: 19,99 Euro

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