Frühes Kino

Thomas Elsaesser u.a.: Frühes Kino, Kino der Kaiserzeit & Filmgeschichte und frühes Kino

Frühes Kino – wer sollte sich schon dafür interessieren außer der Handvoll Spezialisten, die die Filmgeschichten schreiben und daher der für Wissenschaftler unumgänglichen Frage nach den Anfängen nachgehen müssen? Frühes Kino – das assoziiert kurze Stummfilme in Schwarz-Weiss, in denen sich mit gewollter und ungewollter Komik archaisch anmutende Figuren stakkatoartig bewegen und simple Storys entfalten, an denen wir bestenfalls erkennen, wie weit wir es seitdem gebracht haben. Es assoziiert unbeholfene Technik und bestenfalls eine Ahnung davon, welchen unschuldigen Zauber diese neue Erfindung seinerzeit für unsere Urgroßmütter und –väter bedeutete, und dass seine Faszination für die heutigen mediengewohnt coolen Generationen kaum noch erreichbar sein mag. Immerhin, solche mehr oder minder vagen Vorstellungen und Kenntnisse sind seit dem 1995 gefeierten 100jährigen Jubiläum des Films bei einem breiteren kinointeressierten Publikum parat. Auch die Filmwissenschaft hat im Umkreis des Jahrhundertereignisses intensivere Forschungen unternommen. Zwei neue Bände der edition text+kritik fassen Ergebnisse zusammen: Kino der Kaiserzeit, herausgegeben von Thomas Elsaesser und Michael Wedel, und Elsaessers Filmgeschichte und frühes Kino.


Der Doppeltitel des zweiten Bandes verweist auf die zwei Bereiche, in denen sich Filmwissenschaft generell bewegt: Sie befasst sich einerseits mit Filmästhetik und Filmgeschichte und andererseits mit der Geschichte des Kinos als genuiner kultureller Institution der Moderne, die mit der Eigenart der Kunstgattung Film nur unzureichend erklärt werden kann, wie diese umgekehrt ohne die technischen, sozialen und psychologischen Bedingungen des Phänomens Kino nicht zu denken ist. So zitiert Elsaesser in der Einleitung des erstgenannten Bandes die paradoxe Formulierung des amerikanischen Filmwissenschaftlers Douglas Gomery, dass für die Historiographie des Films „die Sichtung von Filmen eine eher unzureichende Forschungsmethode ist.“ Das macht neugierig auf die folgenden Beiträge und scheint sich bei der ersten Sichtung als nassforscher Flop zu erweisen, denn tatsächlich zeugen sämtliche 21 Aufsätze von nichts anderem als der Lust am Film, von der die Verfasser ganz gewiss besessen waren, als sie ehemals „pikante“ Filme und kolportagehafte Detektivgeschichten, Propagandastreifen und fantastische Filme, herzzerreißende Melodrams und Komödien der 10er und 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts sichteten und mit viel Sinn fürs Detail analysierten.

Wenn Elsaesser seinem zweiten Band den Titel Archäologie eines Medienwandels gibt, erhellt hier gleichzeitig eine Dimension des Begriffs „Archäologie“. Trotz der Versicherung, dass ein genügend hohe Anzahl von Filmkopien die archivarischen Verluste der Folgejahrzehnte überlebte, zeigen etliche Beiträge die Fährnisse und Fehlschläge des Unterfangens. So ist der von Wedel vorgestellte Film Titanic – in Nacht und Eis von 1912 erst kürzlich wieder entdeckt worden, der zum Vergleich herangezogene Streifen Saved from the Titanic aus dem gleichen Jahr gilt weiterhin als verschollen – und wird gleichwohl auf der Basis von Pressedokumentationen einer ausführlichen narrativen Analyse unterzogen. Von der 1916 produzierten 5-teiligen Homunculus-Serie, die stilistisch als wichtigster Vorläufer des deutschen expressionistischen Films gilt, ist eine einzige Episode erhalten, und zwar von so schlechter Qualität, „dass es schwierig ist, ein gesichertes Urteil über diesen Film zu fällen.“ Die Beispiele ließen sich fortführen, und man versteht, dass die Geschichtsschreibung des frühen Films in der Tat eine „Archäologie“ gleich der Methode der Frühhistoriker erfordert, die Steinchen und Scherben zu einem Bild verschollener Kulturen zusammenzufügen trachten. Sachkenntnis und Phantasie sind dafür gleichermaßen erforderlich. Zweifel an spekulativen Schlüssen sind erlaubt.

Bei der „Archäologie“ des frühen Films geht es aber auch um etwas anderes. Wedel rekonstruiert aus den Textquellen über den verschollenen Film auch, mit welchen Mitteln er produziert, welche Techniken benutzt, welche filmnarrative Verfahren konzipiert, welche Wirkungen beim Publikum erzeugt wurden. Er gibt Auskunft über die Bedingungen der Produktion und über den Vertrieb. Und so verfahren auch andere Autoren. Hier finden sich Elemente der „Archäologie“ des Medienwandels, die dem zitierten Paradox von der Unzulänglichkeit der ausschließlichen Filmbetrachtung seinen Sinn verleihen und dass Elsaesser in seiner Monografie über die Filmgeschichte und das frühe Kino systematisch fundiert und methodisch reflektiert. Er wirft zunächst generelle Fragen zum Selbstverständnis der Filmgeschichte auf: Ist sie, in der Manier der hermeneutisch ausgerichteten Literaturgeschichte, Werkgeschichte, und wenn ja, nach welchen Kriterien wäre sie zu bewerten? Ist sie gar „Spiegel“ der Zeitgeschichte? Die Spiegelmetapher hat bekanntlich einen glatten Boden, auf dem man in diesem Fall zur Metapher der Leinwand als „Spiegel“ von Projektionen und Wünschen der Zuschauer gleitet und folgerichtig bei der Filmgeschichte als Wahrnehmungsgeschichte ankommt. Daran schließt sich die Frage nach der Geschichte der Vergnügungsindustrie an, die aus der Lust an der Projektion ihren Profit zu schlagen weiß, und so fort. Filmgeschichte ist Medien- und als solche Kulturgeschichte, die eher marginal an der Film-als-Kunst-Debatte partizipiert, die den Film – nicht nur – der ersten Jahrzehnte publizistisch begleitete. Diese Differenz macht Elsaesser von Beginn an deutlich, um sofort die Prämissen historisch korrekt von der Geschichte des Erzählkinos, die traditionell den Kern der Filmgeschichte bildet, zur Geschichte des Kinos als Institution einer technischen Revolution zu beschreiben. Vertraut daran ist der Konnex mit der Kulturindustrie und dem Film als Ware, mit Publikum und Massentheorie, der Elsaesser in einem Kapitel nachgeht. Sein entscheidender neuer Ansatz besteht darin, die Frühzeit des Kinos nicht linear als Folge einer technologischen Innovation darzustellen, sondern als ein „mit beängstigender Plötzlichkeit mehr oder minder überall in der entwickelten Welt“ auftauchendes Phänomen im Schnittpunkt diverser Modernisierungsprozesse, die um die Wende zum 20. Jahrhundert den kulturellen Raum neu definierten. Technisch war es laut Elsaesser bereits seit 50 Jahren überfällig. Die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen der Kulturindustrie standen aber erst jetzt bereit und verhalfen jenem generellen Medienwandel zum Durchbruch, der in allen Künsten die Ästhetik des 19. von des 20. Jahrhunderts signifikant unterschied: Das Spiel mit den Zeichen eröffnete eine neue künstlerische wie soziale Realität.

Elsaessers quellengeschichtlich materialreiche und methodologisch brillante Geschichte des frühen Kinos schreibt wichtige Kapitel einer Archäologie der Moderne und gibt darin der Ästhetik des frühen Films einen Rahmen, die vorläufig nur eine Frage offen lässt: Nicht wer soll, sondern wer außer den Spezialisten kann sich, derart „angefüttert“, für den frühen Film interessieren, wenn weiterhin nur Experten den erforderlichen Aufwand treiben können, um in den Archiven die geheimen Schätze zu bestaunen? Das will heißen: Wo gibt es die Firma, die frühe Filme auf Video und DVD allgemein zugänglich macht und den exklusiven Diskurs für ein breiteres Publikum öffnet? Ein Diskurs über die Zeichen ohne die Zeichen selbst bleibt nicht nur uns bilderverwöhnten Zeitgenossen eine Spur zu abstrakt.

Thomas Elsaesser und Michael Wedel (Hrsgg.)
Kino der Kaiserzeit. Zwischen Tradition und Moderne
München: edition text+kritik 2002
429 Seiten, zahlreiche Abbildungen
ISBN 3-88377-695-5
29,50 Euro

Thomas Elsaesser
Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels
München: Edition text+kritik 2002
346 Seiten
ISBN 3-88377-696-3
23,50 Euro

Dr. Sigrid Lange

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