Dichtung und Wahrheit

Aus der Außenperspektive ist jede Biografie eine Dichtung: Sie lässt zur Raffung lang(weilig)e Passagen weg, verändert einzelne Begebenheiten zur Erzeugung von Kohärenz und kontrastiert die wichtigen Momente gegenüber den unwichtigeren durch stilistische Mittel. Verzeihlich ist dies, wenn es nicht des Biografen eigenes Leben ist, das so beschrieben wird. Unverzeihlich hingegen bei der Autobiografie, weil das dahinterstehende Prinzip mehr als (Lebens)Lüge, denn als Dichtung empfunden wird. Doch was, wenn diese Lügen nicht Mittel zum Zweck sind, sondern dem Leben durch das Erzählen Anekdoten erst Sinn verliehen wird? Tim Burtons neuer Film „Big Fish“ stellt genau diese Frage.

Seit drei Jahren ist Will Bloom (Billy Crudup) nun schon mit seinem Vater Edward (Albert Finney) zerstritten. Doch jetzt liegt der alte Herr im Sterben und sein Sohn unternimmt einen letzten Versuch, sich mit ihm zu versöhnen. Er will endlich herausfinden, wer Edward Bloom wirklich ist. Denn zeitlebens hat der nur fantastische Lügengeschichten über sich und sein Leben erzählt. Glaubt man Edward Bloom, hat der als junger Mann (Ewan McGregor) gemeinsam mit einem Riesen seine Heimatstadt verlassen, in einem magischen Wald gegen mordlüsterne Fabelwesen gekämpft, die perfekte Stadt gefunden und umgehend wieder verlassen, mit einem Werwolf im Zirkus gelebt, seine geliebte Ehefrau Sandra (Alison Lohman / Jessica Lange) mit 10.000 Narzissen betört, den Zweiten Weltkrieg quasi im Alleingang gewonnen, eine komplette Nacht auf dem Grund eines Sees verbracht und noch viele andere, schier unglaubliche Wunderdinge erlebt.

Jeder, der Edward kennt, kennt diese und tausend andere solcher Geschichten von ihm und hört ihm immer wieder gebannt zu – selbst dann, wenn er das Erzählte schon längst kennt. Die Faszination gegenüber diesem „Anglerlatein“ Edwards teilt auch Tim Burton und infiziert damit auch seine Zuschauer. Präsentiert werden die Anekdoten wie Rückblicke, teilweise ineinander verschachtelt. Der rote Faden, der dafür sorgt, dass aus Big Fish nicht einfach ein Episodenfilm wird, sind die Figuren, die in jeder Erzählung Bills immer wiederkehren und damit den Wahrheitsgehalt unterstreichen sollen – fast schon, als wären sie Zeugen all jener fantastischer Begebenheiten. Und so entschließt sich Will, tatsächlich eine der erzählten Figuren als Zeugin zu befragen, denn er vermutet hinter den „Lügen“ seines Vaters ein geschickt getarntes Doppelleben. Was er jedoch erfährt vergrößert seine Ungewissheit nur noch mehr.

Will ist in der Situation, mit den Glaubenswahrheiten seines Vaters leben zu müssen, was er nicht zu akzeptieren bereit ist, weil er glaubt, dass die Wahrheit zusammen mit dem krebskranken Edward sterben wird. Die Gewissheit, die er sucht, ist nicht zuletzt dadurch begründet, dass er seinen eigenen Ursprung – um den sich natürlich auch wilde Fabeln ranken – klären will. So glaubt durch einen investigativen Blick in die Vergangenheit dieselbe Prophezeihung zu empfangen, wie Ed sie als Junge beim Blick ins Glasauge der Hexe bekommt: Wie wird meine Zukunft ausfallen? Und nicht ohne Grund ist die „Zeugin“, die er befragt, auch genau jene Hexe (beide werden von Helena Bohnham Carter gespielt) von der sein Vater ihm erzählt hat – die ihm damals gewahrsagt hat, wie er einmal sterben und damit, was er alles überleben wird. Und das große Finale in Eds Leben ist schließlich genau der Gegenstand seiner letzten Geschichte, die zugleich allen anderen Geschichten ihren Sinn verleihen soll.

Tim Burton besinnt sich im Big Fish zurück auf seine mikrosozialen Themen. Die für ihn typische Handschrift ist dabei unverkennbar: Eine Mischung aus Pathos und Komik, Realität und Fantastik, die sich stets genial ausbalanciert ist. In den Real-Sezenen der Rahmenhandlung, die vom Sterben Edwards und der Recherche Wills erzählt, bietet er den Angelpunkt zum Verständnis der an fantastischen Einfällen überbordenden, eingeschobenen Anekdoten. Der Rhythmus, in dem sich die zwei, manchmal drei Erzählschichten abwechseln ist dabei minutiös austariert: Das Drehbuch weiß zu jeder Zeit, auf was es referieren kann, wen es wann in die Erzählung einfügen muss und wird dabei von Setting und Bildkomposition perfekt unterstützt. Überhaupt ist Big Fish in seinen Bildern unglaublich vielschichtig und anspielungsreich. Die Erzählstrategie Edwards, Konstanten in all seine Märchen einzufügen, verdoppeln die Bilder des Films, indem auch sie immer wieder Leitmotive einfangen – mal zufällig am Bildrand, mal als Attraktor im Fokus.

Trotz des existenziell „schweren“ Themas präsentiert sich die Ästhetik Big Fishs mit einer Leichtigkeit, wie sie für Burtons Filme typisch ist: Das Spiel der Akteure (allen voran natürlich Ewan McGregor als Held) driftet nie in Tragik oder gar Traurigkeit ab – jede Krise wird von der typischen Burton’schen Melodramatik (einer Art liebevoller Kitsch) begleitet. Dieses Prinzip trägt schon seine Filme Edward Scissorhands und Ed Wood. Big Fish wird von einem Danny Elfman-Score begleitet, der mit mit seiner tänzelnden Art dieser Leichtigkeit stets den passenden Rhythmus verleiht. Big Fish ist damit ein synästhetisches Meisterwerk – eine perfekte Harmonie von Bild, Spiel, Musik und Erzählung. Nach der eher misslungenen Planet der Affen-Adaption hat Burton bei dieser Literaturadaption wieder Souveränität über den Stoff bewiesen und eine ganz eigene, zauberhafte Parabel über das Leben und das Sterben daraus gesponnen.

Big Fish
(USA 2003)
Regie: Tim Burton
Drehbuch: John August (nach einem Roman von Daniel Wallace)
Kamera: Philippe Rousselot; Schnitt: Chris Lebenzon; Musik: Danny Elfman
Darsteller: Ewan McGregor, Albert Finney, Jessica Lange, Billy Crudup, Helena Bonham Carter, Steve Buscemi, Danny DeVito u.a.
Verleih: Columbia, Länge 118 Min.

Stefan Höltgen

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