Die Kultur der Erinnerung

Die Kultur der Erinnerung ist bekanntlich historischen Wandlungen unterworfen, und bei Ereignissen der jüngeren Geschichte insbesondere an das Selbstverständnis von Generationen gebunden. Kein Gegenstand beweist das deutlicher als der Umgang mit dem „Zivilisationsbruch“ Auschwitz durch die Generationen der deutschen Nachkriegsgeschichte: der des „Wirtschaftswunders“ und der ihr allgemein – und so allgemein zu Recht – angelasteten Verdrängung der Verbrechen, in die sie selbst involviert war, der 68er, die mit emphatischen und manchmal selbstgerechten Schuldzuweisungen an die Generation der Väter und Mütter dennoch eine breite Aufarbeitung der Geschichte des „Dritten Reichs“ in Deutschland initiierte, und der neuerlichen Historisierung der 68er, die sich eben anschickt, andere Verdrängungen aufzuhellen.

Der offizielle Antifaschismus der DDR und seine unabgeschlossene kritische Reflexion bilden eine eigene Facette in dieser Entwicklung. Zugleich bleibt der Holocaust eine Zäsur, die sich den üblichen Paradigmen der Historisierung entzieht: Es gibt sowohl eine nicht irgendwann als abgegolten erklärbare Verantwortung der Deutschen für den Holocaust als auch einen weiterhin offenen Prozess der Auseinandersetzung damit, dessen Besonderheit sich vielleicht an dem Begriff des Tabus beschreiben lässt – im Bereich der politischen Ethik als das Tabu, Antisemitismus und Rassismus relativierend zu verharmlosen, im Bereich der Geschichtsphilosophie die Respektierung der Singularität des Holocaust, im Bereich des Ästhetischen als „Bilderverbot“, das sich im Kern auf die Darstellbarkeit der Erfahrung der Opfer bezieht. Tabus haben indessen die Eigenart, auf ihre Überschreitung zu drängen. Das ist aber, wie sich gezeigt hat, in diesem Fall keine alternativ entscheidbare Frage, sondern die der Diskursivierung einer Aporie.

Genau diesen Ansatz wählt Sven Kramer in seiner Aufsatzsammlung, die sich mit der filmischen Diskursivierung von Erinnerung befasst, mit ästhetischen Strategien der Authentisierung in Filmen über die Todeslager, mit einerseits Adornos und andererseits Lyotards Argumentationen über die (Un-)Möglichkeit der Repräsentation des Holocaust sowie mit Peter Weiss’ Konsequenzen aus seiner Verfolgungsgeschichte im Kontext der öffentlichen Selbstdarstellung der Gruppe 47. Kramer bewegt sich dabei auf der Höhe der wissenschaftlichen Debatten, ohne seine Darstellungen mit der Referierung und Diskussion des außerordentlich breiten Forschungsbestandes zu belasten. Statt dessen verdeutlicht er die Relevanz theoretischer Leitbegriffe und -diskurse – das Opfer-Täter-Schema, Traumatisierung, Bilderverbot, Authentizität – in ihrer ästhetischen Umsetzung. Er behandelt Klassiker wie Lumets Pfandleiher (USA 1964), Pakulas Sophies Entscheidung (USA 1982), Resnais’ Nacht und Nebel (F 1955), Lanzmanns Shoah (F 1985) und Fechners Prozeß (D 1984), um in verschiedenen Filmgenres die Verfahren bildlicher Rhetorik zu analysieren und dabei zu urteilen, ohne in „politisch korrekte“ Apotheose hie und Verdammung da zu verfallen. Erfreulich ist auch, dass er die allbekannte „Lyrik-nach-Auschwitz“-Diskussion im Anschluss an Adorno mit all ihren langweiligen Missverständnissen und deren Korrektur nicht wiederholt, sondern zeigt anhand des zentralen Adornoschen Begriffspaars von Kultur und Barbarei im gesamten Kontext der Nachkriegsphilosophie und –ästhetik, wie er das Sprechen über Auschwitz reflektiert.

Der Aufsatz über Peter Weiss erscheint mir von besonderer Aktualität, weil er die Kontroversen innerhalb der Linken an einem interessanten Punkt beleuchtet. Es geht um eine der letzten Tagungen der Gruppe 47, die 1967 in Princeton, New Jersey just zu der Zeit zusammentrat, als die Anti-Vietnamkriegsbewegung in den USA ihren ersten Höhepunkt erlebte. Während die offiziellen Sprecher eben der Gruppe, die sich dereinst als junge Generation von Literaten programmatisch zur politischen Verantwortung der Kunst bekannte, im Gastland zur politischen Zurückhaltung aufforderte, beteiligte sich Weiss, der als „Halbjude“ im Exil gewesen war, als einer von nur zweien aus dieser Versammlung an den Studentenprotesten. Der Zusammenstoß blieb nicht aus, und an ihm brachen alle scheinbar ausgetragenen Kontroversen wieder auf: zwischen den Engagierten und den Exilierten, den Opfern, den Tätern, den unschuldig Schuldigen und was der Etikettierungen mehr sind– wer es genauer wissen will, möge es nachlesen. Was Kramer hier bei Weiss als Re-Traumatisierung eines Ausgegrenzten durch ein neues Establishment beschreibt, katalysierte auf der anderen Seite die Historisierung einer Diskursform, wie sie sich diese Gruppe zu eigen gemacht hatte, durch eine neue Generation.

Kramers Buch empfiehlt sich für alle, die sich dem Thema „Auschwitz im Widerstreit“ erstmals nähern, wie auch denen, die darin Anlass zum Widerspruch finden. Nicht zuletzt ist es eine überzeugende Darstellung des Politischen im Ästhetischen.

Sven Kramer
Auschwitz im Widerstreit. Zur Darstellung der Shoah in Film, Philosophie und Literatur.
Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 1999.
141 S., 29,90 Euro

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Dr. Sigrid Lange

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