Alzheimer Case

„Soll ich dich verwöhnen?“, meint das etwa zwölfjährige Mädchen zu dem Mann Mitte 30, der neben ihr auf der Couch sitzt und peinlich berührt dreinblickt. Dann beginnt sie, seinen Oberkörper zu streicheln, während er sich windet und bemüht, das Mädchen abzuwehren.

Verkehrte Welt, zumindest aus Sicht unserer Sehgewohnheiten: Ein Kind, zur Prostitution gezwungen, das die so bekannte Opferrolle verlässt und stattdessen zur Lolita zu werden scheint, während der Freier eher versucht, der Verführung zu widerstehen. Hier ist es nicht mehr das Bild weit geöffneter Kinderaugen in einem schäbigen Zimmer, welches vorherige Filme mit ähnlicher Thematik so oft beschworen haben, um neben Mitleid vor allem aber populistischen Hass auf die Täter zu schüren. Dafür versetzt Regisseur Erik van Looy den Zuschauer in eine ungewohnte und höchst unangenehme Perspektive – die des Täters. Und genau dieser – gewiss nicht unrealistische – Blick auf die Szene ist es, der „The Alzheimer Case“ von leichter verdaulichen Konkurrenten abzuheben vermag.

Auch im späteren Filmverlauf bleibt das Publikum in die Rolle des „Bösen“ gedrängt: Der gedungene Mörder Angelo Ledda, der besagtes Mädchen als potentielle Zeugin ausschalten soll, natürlich aber den Befehl verweigert und sich stattdessen blindwütig auf seine Auftraggeber stürzt, ist keineswegs der Antiheld, den man kennt. An Stelle des „raue Schale, weicher Kern“-Typs tritt mit Ledda ein eiskalter Killer auf den Plan, der keineswegs das vom Klischee geforderte „gute Herz“ offenbart, sondern vielmehr ein Charakter, der sich mit seinem Selbstjustiz-Feldzug als finale gute Tat die Absolution für all seine Verbrechen erkaufen will.

Vor diesem Hintergrund erscheint es nahezu boshaft, dass Erik van Looy sein Werk in eine regelrecht biedere TV-Krimi-Ästhetik kleidet und somit den Zuschauer in Sicherheit wiegt. Doch die Fassade entpuppt sich bei näherer Betrachtung als äußerst trügerisch, wenn „The Alzheimer Case“ es nicht für nötig hält, seine Antagonisten als gefühllose „Schweine“ zu dämonisieren, sondern stattdessen das Geschehen durch ihre eigene Wahrnehmung wiedergibt, indem er ein Bild vom zur Lolita konditionierten Mädchen entwirft, und somit dem Verbrechen eine beängstigende Nachvollziehbarkeit verleiht. Nur manchmal durchbricht er dieses strikte ästhetische Schema und offenbart beispielsweise durch einen unvermittelten Gegenschnitt auf einen gespiegelten Blickwinkel das vertauschte Rollenbild, welches hier zum Tragen kommt.

Und dann, wenn man sich endlich damit abgefunden hat, einen besonders unangenehmen Kinderpornografie-Krimi vor sich zu haben, verfällt der Film plötzlich in den Populismus, den man eher gewohnt ist – und gerade jetzt nicht mehr sehen will. Somit bleibt „The Alzheimer Case“ unangenehm, wenn sich eigentlich Gewöhnung einstellen müsste.

Auf anderer Ebene erscheint das Motiv des an Alzheimer erkrankten Killers mit dem Herz für Kinder als eine gelungene Analogie auf übliche Vertuschungsstrategien: Als den Drahtziehern – Personen in hochrangigen Ämtern – die Aufdeckung des Falles droht, so wird das Wissen um die Krankheit ihres Feindes zur einzigen Hoffnung auf Rettung.

Dennoch: Zum großen Wurf will es nicht so ganz reichen. Obwohl die von van Looy gewählte ästhetische Strategie durchaus Sinn macht, erweckt sie in Kombination mit dem obligatorischen Komissar-Duo eher den Eindruck einer beliebigen „Tatort“-Folge denn eines Kinofilms. Auch der politische Bezug auf sein Ursprungsland Belgien will dem Film nicht gut zu Gesicht stehen: Zu offensichtlich und unironisch erscheint dieses Anliegen, zu handzahm der versöhnliche Schluß. „The Alzheimer Case“ verblüfft mit einer Menge ausgefeilter Details, verweigert aber das offene Hausieren damit. Was übrig bleibt, ist ein ambitioniertes Filmprojekt, dessen beabsichtigte Wirkung in all der konsequenten Subtilität aber weitgehend untergeht.

The Alzheimer Case
(De Zaak Alzheimer, Belgien/Niederlande 2003)
Regie: Erik van Looy

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