»Für die Ewigkeit aber nicht unbedingt für morgen«

Georg Seeßlen: Ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen da überhaupt helfen kann, weil ich ja nicht so in der Mitte stehe.

F.LM: Was die Filmpublizistik angeht, könnte man das aber auch durchaus so sehen, dass Sie ein beträchtlicher Teil der Mitte sind. In der Filmkritikerliste von »Jump Cut« wird unter dem Stichwort »Seeßlen« gar von »Allgegenwärtigkeit« gesprochen.

Georg Seeßlen: (lacht)

F.LM: Sie haben eine äußerst umfangreiche Bibliografie.

Georg Seeßlen: Ich denke, das hat relativ wenig damit zu tun, dass ich ein »Workaholic der Worte« bin oder auf diese Allgegenwärtigkeit hinarbeiten würde. Das hat wirklich ganz materielle Gründe. Wenn man tatsächlich glaubt, man müsse unbedingt frei schaffender Kritiker oder Autor in Deutschland werden, dann muss man arbeiten wie am Fließband.

F.LM: Verfolgen Sie in Ihren Texte ein inhaltliches Projekt? Mit Büchern, wie dem zu New York oder einem jüngeren Artikel in der Jungle World zum Thema »Katastrophe und Katastrophenfilm« ist ja offensichtlich eine Art »Agenda« verbunden, oder?

Georg Seeßlen: Ich behaupte, dass sowieso alles nur ein einziger Text ist; vielleicht so etwas wie »ein Roman der Wahrnehmung unserer Zeit«. Das bedeutet natürlich auch, dass es keine Genregrenzen gibt. Ob ich über Film schreibe oder über Politik, ist im Grunde genommen dasselbe. Es geht immer um die Glocke der Bilder, unter der wir uns befinden, aus der – wie ich hoffe – auch immer noch ein Weg hinausführt. Ich mag und liebe diese Bilder zwar, ich weiß aber auch, dass sie ein virtuelles Gefängnis sind.

F.LM: Das wäre dann die Funktion von »Bilderpublikzistik«, dass die Schrift über das Bild der Ausweg aus dieser Glocke ist?

Georg Seeßlen: Man könnte es vielleicht so sagen: Das Bild ist eine Befreiung aus dem Gefängnis der Schrift und die Schrift ist die Befreiung aus dem Gefängnis der Bilder. Nur, wenn man permanent zwischen diesen Beiden Bereichen in Bewegung ist, hat man die Chance, noch irgend etwas zu dem alten Projekt der Aufklärung beizutragen.

F.LM: Zu den Medien dieser wechselseitigen Beschreibung von Bild und Schrift kommt nun das Internet hinzu. Ist das mehr Demokratisierung oder Amateurisierung der Filmpublizistik? Wie denken Sie als Schreibprofi darüber?

Georg Seeßlen: Ich denke, dass das keine Demokratisierung ist. Jede Demokratisierung braucht Demokraten und ein demokratisches Bewusstsein. Die Mittel selber können nie demokratisch sein. Ich finde aber sehr wohl so etwas wie »Populismus« im Sinne einer Diskursform (und nicht negativ) gemeint, im Internet, also die Frage, wie wir uns verständigen. Es gibt dort noch keine Form, welche die Machtfragen klärt, sondern lediglich die unstrukturierte Verbreitung von Information.

F.LM: Wäre denn die Kommentierung der Bilder durch den Betrachter, der gerade aus dem Kino kommt und seine Kritik für/in das Netz schreibt eine mögliche Zukunft für die Filmpublizistik?

Georg Seeßlen: Ja. Das muss auch sein. Der Vorteil liegt ja schon darin, dass hier Leuten, die niemals die Möglichkeit hätten, eine Filmzeitschrift zu machen, die Möglichkeit gegeben wird, sich mitzuteilen. Das bringt ganz andere Stimmen in die Diskussion. Wenn wir auf der anderen Seite den Markt der Printmedien anschauen, wird es in absehbarer Zeit dort einfach keine freien Stimmen mehr geben. Wenn das Internet die Funktion von Gegenöffentlichkeit bis dahin nicht irgendwie strukturiert hat, dann wird es diese Gegenöffentlichkeit nicht mehr geben.

F.LM: Glauben Sie, dass da eine Monopolisierung stattfindet oder worin wird die Gefahr bestehen?

Georg Seeßlen: Das ist keine Science Fiction mehr! Das maskiert sich wohl noch ein bisschen, aber es ist schon gegenwärtig. Zwar gibt es noch mäzenatische/kirchliche Publikationen oder welche, die auf Selbstausbeutung basieren. Doch man weiß ja eigentlich, dass so etwas zeitlich immer begrenzt ist: Irgendwann will oder kann man sich nicht mehr ausbeuten und auch die mezänatischen Publikationen werden irgendwann abgeschafft werden. Da werden sich dann die konservativen, reaktionären Kräfte durchsetzen.

F.LM: Ist das eine reine Frage der Ökonomie?

Georg Seeßlen: Nicht nur, gleichzeitig auch eine des Bewusstseins! Den Leuten werden solche Projekte, wie es sie jetzt noch gibt, irgendwann einfach auch gar nicht mehr fehlen. Wenn darum gekämpft würde, könnte die Ökonomie diese Projekte auch nicht abschaffen. Denn dann würde ja auf dem Independent-Sektor soviel nachwachsen, dass die Monopole nie ganz das Rennen machen könnten. Wenn Sie diesen ‚Kampfeswillen’ gar nicht mehr erkennen können, dann bleiben nur noch die flüssigeren Medien, wie das Internet, übrig. Aber um die Internet-Projekte verbindlich zu machen, braucht man mehr als bei den Printmedien, die ja von vornherein die ‚mythische Kraft des Gedruckten’ besitzen.

F.LM: Man könnte also eine Diversifikation des »kommentierenden Marktes« sehen, bei der es einerseits nur noch den sehr schnellen, reaktiven, flüssigen aber unverbindlichen Diskurs im Internet geben wird und andererseits nur noch Blätter, die kostenfrei Werbung als Kritik tarnen?

Georg Seeßlen: Und noch etwas Drittes: die Maitre Penseurs, die großen Namen der Filmkritik von den großen ‚bürgerlichen Zeitungen’. Die sind gar nicht so darauf angewiesen, dass man sie so massenhaft liest, dennoch ist ihr Einfluss nicht zu unterschätzen. In dieser Dreiheit fängt der rein kommerzielle Markt an. Erstens das Anhängsel der Industrie. Zweitens das Internet, wo man nie weiß, wo das amateurhafte aufhört und das Professionelle beginnt. Wo fängt Verbindlichkeit an? Wo das Biografische? Und drittens eben der exklusive Club der Leute, die die Wahrheit verbreiten, die nichts kostet. Dabei geht allerdings derjenige Diskurs verloren, der das alles zusammenbringt und in Bewegung versetzt. Für sich allein genommen, sind die drei Bereiche unheimlich unverbindlich und tun niemandem weh. Wenn sie zusammen kommen – sei’s in Form eines Crash, sei’s als partielle Verbündung – sähe das anders aus.

F.LM: Kommen wir mal zu einer speziellen möglichen Rolle der Filmpublizistik. Wird sie künftig als kommentierende Textsorte und gerade in der Nachfolge der Medienereignisse »Erfurt« oder »New York« wichtiger werden? Vielleicht wird ihr hier ja die Möglichkeit eingeräumt, den Diskurs wieder zu rationalisieren?

Georg Seeßlen: Ob ihr diese Möglichkeit eingeräumt wird, weiß ich nicht. Eine Aufgabe wäre das sicherlich. Ich denke, dass wir gleichzeitig ja sehr genau beobachten können, dass der Umschlag von politischer Symbolik in symbolische Politik (was vom Wahlkampf als Game Show oder Soap Opera bis zum terroristischen Akt als Bilderproduktion reicht) so forciert ist, dass im Grunde genommen jeder Filmkritiker diese Beziehungen besser verstehen kann, als einer der im klassischen Sinne politisch-ökonomisch geschult ist. Das bringt natürlich auch eine kolossale neue Verantwortung mit sich. Ob man der subjektiv oder objektiv gerecht werden kann, ist eine andere Frage.

F.LM: Damit könnte es eine der künftigen Aufgaben des Filmkritkers/-publizisten sein, sozusagen »Die Farbe des Diskurses« zu erkennen und zu benennen, wenn er aus dem Kino kommt. In Ihrer Bibliografie ist das ja sehr deutlich nachzulesen. Gerade, weil Sie sich in Ihren Betrachtungen ja auch dem Pulp widmen.

Georg Seeßlen: Das wird zwar immer wichtiger aber gleichzeitig auch immer mehr behindert. Das ist ja eine Funktion dieses exquisiten Filmkritikerclubs: Dadurch, dass sie zu solch großen Gallionsfiguren werden, werden sie auch Meinungsbildner. Das lässt sich sehr deutlich beobachten, wenn Sie mit einer Zeitung zusammen arbeiten. Der Quantensprung von der ästhetischen zur politischen Kritik wird mit unglaublichem Argwohn und mit Gegenkritik beantwortet.

F.LM: Hat die »politique des auteurs« damit auf den Filmkritiker übergewechselt? Glauben Sie, die großen Autoren bekämen ein Problem, wenn sie mal eine Woche im Sinne Foucaults als »maskierter Filmkritiker« auftreten müssten?

Georg Seeßlen: Ja. Dieses Problem würde ein doppeltes sein. Einerseits natürlich das Problem der materiellen Drohung. Andererseits aber auch ein inneres Problem. Es gibt ja kein Selbstbildnis. Die Kritik muss immer auch auf sich selbst angewendet werden können. Dagegen gibt es natürlich auch einen ganz klaren inneren Widerstand. Und diese beiden führen dann dazu, dass man dann doch lieber sein FAZ-Dienstauto nimmt und möglichst gelehrte Texte über Jacques Rivette schreibt, ohne jemandem allzu sehr wehzutun.

F.LM: … unverbindlich und verkaufbar also?

Georg Seeßlen: Schon mehr als unverbindlich: Für die Ewigkeit geschrieben, aber nicht unbedingt für morgen.

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.