Fassbinders »Que(e)relle«

In den Gangsterfilmen Liebe ist kälter als der Tod (1969), Götter der Pest (1970) und Der amerikanische Soldat (1970) heißen sie Franz und Bruno bzw. Franz sowie Ricky und Franz Walsch, in den Melodramen Händler der vier Jahreszeiten (1972) und Faustrecht der Freiheit (1975) Hans und Franz Biberkopf, im Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod (1977) Franz B., in der Oskar-Maria-Graf-Adaption Bolwieser (1977) gibt die Vorlage den Namen vor für den immer gleichen Typus des Losers. Rainer Werner Fassbinder wurde nicht müde, Variationen des Franz Biberkopf in Szene zu setzen, bevor er sich in einer 13teiligen Fernsehserie dem Döblin’schen Roman Berlin Alexanderplatz (1980) explizit zuwandte und den Protagonisten mit seinem alter Ego und Intimfeind Reinhold in eigener Lesart vorstellte. An dieser – leicht erweiterbaren – Serie von zum Scheitern prädestinierten Antihelden besticht das Potenzial an Aktualisierungen, die Fassbinder dem Prototypen aus den 20er Jahren abgewinnt, der doch so zeitgebunden erscheint. Döblins Biberkopf ist Zuhälter aus Profession, ein Macho und Schläger aus Hilflosigkeit und dabei liebe- und schutzbedürftiger, als es sich alle seine ihm gefügigen Dienerinnen und weiblichen Opfer zusammen leisten können zu sein. Im Berlin der Weltwirtschaftskrise misslingen ihm zwangsläufig alle Versuche, auf »anständige« Art ein passables Auskommen zu finden. Kriminell wird er aus Gutgläubigkeit und wider Willen. Politisch ist er gleich viel und gleich wenig anfällig für die Verheißungen der Roten wie der Nazis, und im Grunde gehen sie ihn alle nichts an. Doch verführbar ist er allemal in seinem guten und bornierten Glauben an »das Gute« im Menschen und an das Glück.

Aus diesem Holz sind Fassbinders Typen der 60er und 70er Jahre, deren Zeitgenossenschaft im Stofflichen nicht immer sofort greifbar ist, weil es gleichsam von der Seite daher kommt wie bei Ricky, den nur der Titel als »amerikanischen (Vietnam-)Soldat« apostrophiert und damit in einen politischen Kontext rückt, auf den das Geschehen zu beziehen ist. Doch schon das bedeutet eine Provokation zur Zeit der machtvollen und deutlichen Anti-Vietnamkriegsbewegung, denn Fassbinders Ricky ist schlicht ein Söldner, der sein Handwerk des Tötens gelernt hat und es nunmehr in den Dienst einer Gangsterclique stellt, angeheuert von einem alten Freund, dem er nun mal nichts abschlagen kann. In seiner emotionslosen Schießfertigkeit kann er als Komplement des Hans im Händler der vier Jahreszeiten verstanden werden – auch der ein aus der Fremdenlegion zurückgekehrter Söldner, der sich allerdings als Schwächling vor dem Druck der spießbürgerlichen Misere in den Alkohol flüchtet. In Liebe ist kälter als der Tod und Götter der Pest werden die glücklosen kleinen Gangster von ihren Freundinnen an die Polizei verraten, in Faustrecht der Freiheit verkauft der schwule Arbeiter Franz sich und sein in der Lotterie gewonnenes Geld an die gewissenlose »Liebe« eines geschäftlich pleite gegangenen Dandys aus der Mittelschicht. Sie alle enden durch Mord oder Selbstmord. Als unmittelbar aktuell kann man hier bestenfalls Fassbinders doppelbödige Hommage an die Medienkultur im Allgemeinen und den Gangsterfilm im Besonderen erkennen: Er mache keine Gangsterfilme, sondern Filme über Leute, die viele Gangsterfilme gesehen haben, gab er zu Protokoll. Aber gewiss geht es ihm nicht um Medienkritik im Stil der political correctness, sondern, auf dieser Ebene, um ein Spiel mit filmischen Klischees, zur Identifikation und zur kritischen Distanz gedacht. Schon näher am zeitgenössischen Diskurs befindet er sich mit seinen Helden vom Typ der Hans Mayer’schen Außenseiter (nach dem gleichnamigen linken Kultbuch der siebziger Jahre), und das waren: die Frauen, die Juden, die Homosexuellen, an denen nach Mayers These das Projekt Aufklärung gescheitert sei. Fassbinders Figurenrepertoire scheint geradezu auf die »Außenseiter« zugeschnitten, um – ein weiteres Mal – am Mainstream des linken Diskurses vorbei zu zielen, denn sie eignen sich allesamt nicht als Objekte der Identifikation innerhalb des Täter-Opfer-Schemas. Seine Frauengestalten trugen ihm den Vorwurf des Antifeminismus ein (Prototyp Martha, 1974), seine Juden den des Antisemitismus (Prototyp »der reiche Jude« aus Der Müll, die Stadt und der Tod), und seine Homosexuellen den der Favorisierung sexistischer Vorurteile. Martha revoltiert nicht etwa mit dem Selbstbewusstsein der neuen Frauenbewegung gegen die Fesseln der kleinbürgerlichen Ehe, sondern unterwirft sich ihnen mit masochistischer Lust. Der »reiche Jude« aus dem Szenario des spektakulären Frankfurter Häuserkampfes zu Beginn der 70er Jahre erfüllt alle antisemitischen Klischees des skrupellosen »Geldjuden«, der gleichwohl eine Hure braucht zur Linderung seiner seelischen Einsamkeit. Franz in Faustrecht der Freiheit »enttäuscht« gleich zweifach durch sein klassenkämpferisches Versagen als »Arbeiter« gegenüber den »Kapitalisten« und als Opfer seiner sexuellen Hörigkeit in der Glamourwelt des Rotlichtmilieus.

Ein Schema wird sichtbar: Wo die akademischen und künstlerischen 68er mit einem populären Slogan das Private zum Politikum erklärten, erscheint bei Fassbinder umgekehrt das Politische privat oder genauer: sexuell. Allein die Auflistung entsprechender Sujets und ihrer Fassbinder’schen Entfaltung würde Seiten füllen – von der »Umarbeitung« der Goethe’schen Iphigenie zu einem 68er-Stück als Orgie mit allen sexuellen Couleurs (Iphigenie auf Tauris von Johann Wolfgang von Goethe, 1968) bis zur Abfertigung der »dritten Generation« der RAF als Spaßguerilla im eigenen Gefängnis sexueller Abhängigkeiten (Die dritte Generation, 1979). Doch handelt es sich bei Fassbinder nicht um die identische Umkehrung des aktuellen politischen Diskurses. Vielmehr stellt er sich mit geradezu insistierender Boshaftigkeit »quer« dazu und scheint damit einen anderen Diskurs vorweg zu nehmen, für den man erst in den neunziger Jahren den passenden Namen fand: die Queer studies, eine Bezeichnung, die offenbar unwissentlich, aber nicht zufällig eine etymologische Gemeinsamkeit mit einer ehrwürdigen europäischen Tradition des akademischen Streitgesprächs hat: der »Querelle«.

Die an nordamerikanischen Universitäten erfundenen Queer studies bezeichnen mit den »Queers« Subjekte einer nicht fixierbaren, schillernden geschlechtlichen Identität. Zum umgangssprachlichen Gebrauch von »queer« für homosexuell in der Konkretisierung des adjektivischen »seltsam«, ein bisschen verrückt kommt die verbale Bedeutung von »to queer« als »durchqueren«, das das Prozessuale und Unabgeschlossene einer Bewegung meint – mit einem Wort: Die Queer studies stehen am vorläufigen Ende des diskursiven Shifts vom ursprünglich deutlich ideologiekritischen und politischen Emanzipationskonzept der Women’s studies über die Gender und Gay and Lesbian studies zur postmodernen Verlagerung der Politik auf die Ebene des Symbolischen. »Queer« meint ein offenes Gemisch von Möglichkeiten, das sich vor allem »quer« zu essentialistischen Vereindeutigungen stellt. Hier koinzidiert die allgemeine postmoderne Betonung der Differenz anstelle der Opposition mit der Entwicklung der Geschlechterforschung von der soziologischen und psychoanalytischen Begründung des Antagonismus von männlich und weiblich, der unreflektiert mit der Heterosexualität als Norm operierte, zur Orientierung auf eine offene, nicht fixierbare und sich daher sozialen Konventionen entziehenden Identität. Diese »Queerelle« hat die kämpferische Konsequenz der »Querelle« ersetzt durch die Unterminierung des herrschenden Diskurses und den Schwerpunkt dabei deutlich von der Konfrontation auf die flexible, anarchische und spielerische Relativierung der symbolischen Ordnung verschoben.

Allerdings wäre es zu schlicht, Fassbinder zum hellsichtigen Vorläufer des postmodernen Projekts »Queer« zu stilisieren. Vom akademischen Diskurs trennt ihn die künstlerische Ausdrucksweise, von der fröhlichen programmatischen Unverbindlichkeit der politische Ernst und das dezidierte historische Interesse, die etwa in seinen späten Deutschland-Filmen (Die Ehe der Maria Braun, Lili Marleen, Lola, Die Sehnsucht der Veronika Voss) das bittere Zeitbild durch ihr melodramatisches Pathos glaubhaft machen. Gemeinsam ist Fassbinder mit dem »Queer«-Projekt die tiefe Skepsis gegen binäre Denkschemata mit ihren einfachen Lösungen sowie der Trend, Konflikte auf dem Schauplatz der Körper zu explizieren. Wohlgemerkt: vermittels der sozialen Kodierungen des Körpers, die sich eben dort am deutlichsten zeigen, wo Sexualität von der »Norm« abweicht: bei den Schwulen und Lesben, bei den Bisexuellen und Transvestiten, aber eben auch bei den Huren und ihren Zuhältern, die bei Fassbinder stets in eine gegenseitige physische und psychische sadomasochistische Abhängigkeit verstrickt sind. Sexualität als das privateste menschliche Verhältnis intensiviert bei ihm stets die Spielregeln des allgemeinen gesellschaftlichen Verkehrs, weil ihnen hier einerseits der Traum von Glück und Menschlichkeit ganz ungeschützt ausgeliefert ist und sie andererseits dem Gesetz des Tauschwertes direkt unterliegt. Daher ist Prostitution bei Fassbinder auch stets konkreter Vorgang und Metapher der Verhältnisse. Im Festhalten an diesem Entfremdungskonnex wie in seinem daraus resultierenden Moralismus erscheint er fast rührend altmodisch bis in die Wortwahl hinein, wenn er etwa die »Ausbeutbarkeit von Gefühlen« als sein Grundthema erklärt.

Gleichwohl sind das Rührende, das Anrührende, mithin das Tragische und das Melodramatische Teil seines genau kalkulierten ästhetischen Konzepts, das so viele Facetten kennt, wie auch die Entsprechungen des Privaten und Politischen, des Intimen und Gesellschaftlichen niemals mit dem aufklärerischen Gestus der (besserwisserischen) Enthüllung ineinander aufgehen. An zwei Polen kann das Spektrum illustriert werden: seinen zeitlich dicht beieinander liegenden Filmen Berlin Alexanderplatz und Querelle (1982, nach Jean Genets gleichnamigem Roman). Ein direkter Vergleich scheint sich ob ihrer Verschiedenheit zu verbieten. Gemeinsam sind ihnen lediglich die bekanntlich nichtssagende Feststellung, dass es sich jeweils um »Literaturverfilmungen« handelt, der Protagonist aus dem Feld der sozialen und sexuellen »Außenseiter« stammt, sowie – natürlich – die unverwechselbare ästhetische Handschrift Fassbinders.

Döblins Berlin Alexanderplatz gilt als exemplarisches Beispiel formal moderner Großstadtliteratur, das vom Dialekt über die Schauplätze, das soziale Spektrum und die politischen Kämpfe hin das Berlin der 20er Jahre evoziert. Fassbinders Film dagegen verlegt dies alles in ein exzessiv auf 14 Stunden ausgedehntes melodramatisches Kammerstück, das die Psyche des Franz Biberkopf als Opfer der hektischen und geräuschvollen, ungerechten und brutalen und auf jeden Fall qualvollen modernen Unübersichtlichkeit ausleuchtet und konsequent fast ausschließlich in Innenräumen spielt. Biberkopf agiert seine Hilflosigkeit in abrupter Körperlichkeit aus, sei es durch Gebrüll oder durch Zuschlagen, sei es im Liebes- oder im Kampfakt, die sich kaum voneinander unterscheiden. Eine auslegbare Andeutung bei Döblin wird bei Fassbinder zum Zentrum der Handlung: Biberkopfs homoerotische Zuneigung zu seinem Widerpart Reinhold. Sie wird physisch nie ausgelebt, sondern verschiebt sich in den merkwürdigen Frauentausch zwischen Reinhold und Franz, ein Reigen mit Wiederholungszwang von der Verführung und Vergewaltigung der verschiedenen Frauen bis zum Mord, der Reinhold letztlich an die Stelle versetzt, die Franz zu Beginn verlässt: das Zuchthaus. Nicht zu vergessen Reinholds Mordversuch an Franz, als er ihn aus einem fahrenden Lkw stößt, vordergründig um ihn als vermeintlichen pozentiellen Verräter einer gemeinsamen Diebesaktion auszuschließen. Das Resultat zeigt den eigentlichen Sinn der Tat: Franz Biberkopf verliert einen Arm und erfährt damit eine symbolische Kastration, die Teil dieses Männerspiels um Liebe, Besitz und Macht ist. Sie ist zugleich Metapher der sozialen Versehrtheit des Franz Biberkopf, der sich in seiner Sehnsucht nach Liebe und Menschlichkeit der Brutalität des gesellschaftlichen Tauschgeschäfts nie entziehen kann und mit seinen Träumen folgerichtig im totalen psychischen Zusammenbruch endet. Fassbinders Epilog zum Film Mein Traum vom Traum des Franz Biberkopf allegorisiert das zuvor nur zitathaft anwesende Zeitalter der Story in barocken Bildern von der Hure Babylon, orgiastischen Vermischungen und apokalyptischen Gerichten, die die faschistischen Massenvernichtungen in die Metaphorik der Dante’schen Hölle hineinholen und vielem anderen Sybillinischen mehr. Ob der Zuschauer dem folgen mag wie auch der Intention Fassbinders, in der absichtsvoll sexuell nicht realisierten Beziehung zwischen Biberkopf und Reinhold die Verhinderung einer »reinen Liebe« zu sehen, sei dahingestellt, das Konzept allerdings mit dem Hinweis zur Kenntnis genommen, das hier weder mit sozialem noch mit erotischem »Milieu« ein Verständnis zu gewinnen ist.

Querelle, wie bemerkt, präsentiert sich als komplettes Gegenstück mit dem hintergründigen und schönen Tertium comparationis, das Genet mit dem Namen seines Protagonisten Querelle bereitgestellt hat. Der von Fassbinder sehr textbezogen verfilmte Roman stilisiert das »Milieu« von Meer und Matrosen, von Hafen und Huren ins Ontologische. Mit seiner Feier des A-Moralischen, das die Schönheit des Körpers in seiner anarchischen und destruktiven Kraft über die Disziplinierungen der Ordnungen triumphieren lässt, knüpft Genet an eine lange europäische Tradition an, die den Eros als Verwandten des Tanatos feiert und von de Sade über Baudelaire, Lautreamont, Wilde bis zu Genets Zeitgenossen Artaud und Bataille die Erotisierung und Ästhetisierung des Diabolischen und Ketzerischen einen wirkungsvollen Gegendiskurs zur ideologischen Aufklärung pflegt, dem sich die heutige »Queer«-Debatte kaum bewusst zu sein scheint. Mit ihren Schauplätzen entwirft diese Tradition Gegenszenarien zur Ordnung des Diskurses, die mit Foucault als die klassischen »Heterotopien« identifiziert werden können: das unstete Meer, die Bordelle, die dunklen Nischen des Verbrechens, wie ihre Protagonisten die klassischen »Queers« verkörpern: die Matrosen, die Huren, die Verbrecher, die Schwulen. Indem sie nirgendwohin gehören, repräsentieren sie ein spezifisches, nämlich allegorisches Außenseitertum. So ist etwa Querelle nicht Matrose, weil er homosexuell ist und die Männergemeinschaft sucht, sondern er ist umgekehrt homosexuell, weil er als Matrose eine Berufung zur Abweichung erfüllt. Er verkleidet sich in der »Maske« des Anderen.

Sein erster und in Fassbinders Verdichtung einziger Mord folgt der Philosophie einer rituellen, lustvollen Tötung. Er hat den pragmatischen Zweck, einen Mitwisser in einem illegalen Drogendeal auszuschalten, während die Philosophie den Mord zugleich zu einer schicksalhaften Tat missionarischer Selbstvergewisserung stilisiert. Sartre spricht in seinem großen Essay über Genet von dessen »essentialistischer Einbildungskraft«, die in jedem Seemann den Matrosen und in jedem Stenz den Ewigen suche und zugleich in jedem scheinbaren Zufall das Element einer verborgenen Ordnung und der Vorsehung. Es liegt auf der Hand, dass Genets ästhetische Perspektive auf die »Queers« wie Fassbinders affirmierende Verfilmung dem politischen Anti-Essentialismus der Queer studies widerspricht. Dieser Gegensatz ermöglicht aber auch, die Konstruktion von Identität über Sexualität und Gender in Berlin Alexanderplatz klarer zu umreißen. Hier erscheinen die Bisexualität und der Sado-Masochismus Franz Biberkopfs sowohl als Element seiner psychosexuellen Konstitution als auch als Metapher des für Fassbinder typischen Double binds, der viele gerade seiner Loser in ihrer sozial-moralischen Bedingtheit beherrscht: Er ist gleichzeitig zwei sich ausschließenden Prinzipien, hier der Loyalität gegenüber seinem Freund und gegenüber seiner Geliebten, verpflichtet und geht daran zugrunde (vgl. dazu Thomas Elsaesser in seiner kongenialen Monografie Rainer Werner Fassbinder). »Queer« ist dabei kein emanzipatorisches Projekt, aber doch Katalysator des antiessentialistischen Diskurses. Bei Querelle dagegen entzieht sich die Hauptfigur in ihrer seltsamen Unbeirrbarkeit und Unverwundbarkeit allen sozialen Bindungen und damit auch allen Skrupeln, denen die anderen Figuren verhaftet bleiben, und erstrahlt in der reinen Schönheit des Körpers. Die Figur Querelle wie der Film insgesamt entwerfen ein ästhetisches Konstrukt, für das Fassbinder eine surrealistische Kulisse entwarf, die nach seiner Idee die »Kunstwelt mit Partikeln der Wirklichkeit ins Unendliche« projizieren sollte.

Wie kein anderer Film zeigt Querelle dabei die nicht allein soziale und ideologische, sondern die ästhetische Herkunft der Fassbinder’schen Körper-Szenarien, die ihn zudem mit dem so verschiedenen Berlin Alexanderplatz vergleichbar macht: das Theatralische, dessen Handwerk sich Fassbinder von seinen Anfängen im Münchner antiteater an von der Pike auf angeeignet hat. Der beschädigte Körper des Franz Biberkopf und der »heile« Körper Querelles, die äußerste Brutalität der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Berlin Alexanderplatz und die in surrealistischer Unendlichkeit zerstiebenden »Partikel von Wirklichkeit« in Querelle markieren zwei Pole in Fassbinders Werk, deren Verbindungsglied im Theatralischen sichtbar wird. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist die in slow motion ausgedehnte Pirouette der zusammenbrechenden Leiber von Mordopfer und Täter, die sich im Sterben in einer Liebesumarmung umschlingen. Fassbinder hat seine entsprechenden Schlusssequenz bereits aus Der amerikanische Soldat mehrmals selbst zitiert, hier effektvoll musikalisch unterlegt mit dem leitmotivischen Song So much tenderness. In Berlin Alexanderplatz entspricht Biberkopfs immer aufs Neue erinnerte, im Affekt »versehentlich« passierte Tötung seiner Geliebten, in Querelle ist es der fast tänzerische Tötungsakt an seinem Kompagnon, den Querelle zelebriert. Auch dieses choreografische Schweben gehört zum offenen Konzept des Fassbinder’schen »Queerelle«. Der Zufall hat verfügt, das Querelle sein letzter Beitrag zu diesem Thema geworden ist. Sein einziger ist es nicht.

Sigrid Lange

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