Camp

»If, as Jameson suggests, life has been dramatized to the level of soap, if love is always like a “Jackie” story, then yes, the sharp distinction between real life and fictional forms must give way to a deep intermingling, unmeasurable and so far captured most precisly in fictive or cinematic forms.«
(vgl. Mc Robbie: 21, 1994)

»Im Grunde ist [..] ein Plagiat nichts anderes als ‚Kreativität mit anderen Mitteln’. Nicht was man sagt ist wichtig. Nur der Ton – ja, der Ton.«
(vgl. Vidal: 22/284, 1984)

Ursprünglich bezeichnet Camp den kreativen Ausdruck einer unterdrückten schwulen Kultur, als ein Mittel der (verbotenen) schwulen Kommunikation mit Hilfe von »esoterischen Kodes«. Im Prozess der Umdeutung konventioneller Zeichen liegt ein kreatives Potenzial, das auf Grund der zentralen Stellung von Hedonismus und der aktiven Rolle der Rezipienten als implizitem Prinzip schnell Popularität bei anderen Subkulturen findet und schließlich in ein Interesse des Mainstreams mündet. Das Spezifische an Camp sind dessen vier Charakteristika Ironie, Ästhetizismus, Theatralik und Humor. Ein weiterer Aspekt, die Bevorzugung des Artifiziellen, erstreckt sich dabei auf die Bereiche Ästhetik und Theatralik.

»… there is far more fun in art and art in fun than many of us will even now allow.« (Babuscio: 40, 1977)

Aus dem Moment heraus, dass Homosexuelle und andere Subkulturen von der Gesellschaft als inkongruent angesehen werden, fühlen sie sich oft von der Darstellung der Inkongruenz angesprochen. Dies gilt insbesondere für den Film (neben z. B. Malerei, Musik oder Tanz) und dessen Figuren. Camp funktioniert dabei mittels des »richtigen« Arrangements, Timings und Tonfalls.

Die spezifische Camp-Ästhetik äußert sich in Kunstverständnis, Lebensanschauung und Verhaltensweise, wobei alle Bereiche zueinander in Beziehung stehen. Hauptaspekt ist eine Unterwanderung der allgemeingültigen Normen. Im Kunst-, speziell dem Filmbereich, bedeutet dies eine Verlagerung der Ästhetik: weg von realistischer Darstellung, hin zu einer Mystifizierung des Artifiziellen. Camp dient außerdem in seiner praktischen Anwendung als eine Verhaltensweise – auf Grund der Betonung des Stils ist Camp Mittel zur Selbstdarstellung.

Camp dekodiert Rollen, vor allem Geschlechterrollen. Es entlarvt deren Oberflächlichkeit und postuliert deren wesenhafte Dynamik – dass sie einem Prozess der Veränderung unterliegen können. Dadurch wird aufgedeckt, nämlich dass Geschlechterrollen soziologischer und sozialisierter, nicht aber biologischer Natur sind. Dies erklärt die besondere Beliebtheit von Camp bei seinem schwulen und weiblichen Publikum (vgl. Sontag, 1964). Homosexuelle spielen mit dem Rollenverhalten, weil sie den gesellschaftlichen Erwartungen an ihre Rolle als Frau oder Mann nicht entsprechen (Transvestismus, Transsexualität). Die Figur der Divine (in den Filmen von Waters, 1966-88) dient als Beispiel einer filmischen Umsetzung dieses Aspekts.

Humor wird bei Camp meistens aus der starken Inkongruenz zwischen einem Objekt, einer Person oder einer Situation und dem jeweiligen Kontext erzeugt. Subkulturellen Gruppen ist ein solcher Widerspruch geläufig – ausgestattet mit gleichen gesellschaftlichen Pflichten, wird ihnen oft nicht die gleiche gesellschaftliche Anerkennung zuteil. Viele »Andere« entwickeln, anstatt einer Opferhaltung aus dieser Situation heraus einen spezifischen Humor (z. B. Selbstironie), der sich im Camp wiederfindet.

»Für die ironische Umwertung von Hochkultur und eine exzentrische Aneignung von Produkten der Massenkultur als subversive Praxis steht seit langem der Begriff „Camp“ zur Verfügung. […] Sicher kommt Susan Sontag das Verdienst zu, diese bestimmte „Sensibilität“ in Bezug auf kulturelle Güter, die bis heute auch Teile der Mainstream-Kultur prägt – mit Höhepunkt in den achtziger Jahren – bekannt gemacht zu haben. […] Man muss aber schon sehen, dass das, was hier als Camp beschrieben wird, der Vorläufer postmoderner ästhetischer Strategien war – und es hat ja auch nie an Versuchen gefehlt, diesen Begriff entlang der Gender-Debatte einer neuen politisierten Lesart zu unterziehen und einem schwulen Diskurs zurückzugewinnen.« (vgl. Hermes: 190/191, 1996)

Im Mittelpunkt der analytischen Betrachtung des Camp Underground Movie Pink Flamingos (1972) und des etablierten Hollywood Cinema Hairspray (1988) von Waters steht der dem Camp eigene Prozess der rezeptiven Umdeutung von filmischen Zeichen und die produktive und rezeptive Dimension dieses Prozesses: Inwieweit finden sich in Waters’ Filmen o. a. Merkmale von Camp und inwieweit nimmt er den Rezeptionsprozess in die filmische Ebene hinein?

Der vorliegende Essay behandelt zentral die theoretische Diskussion um eine sich wandelnde Rezeptionstheorie der Sub- und Jugendkulturen, in die der umfassendere akademische Diskurs über Paradigmenwechsel, Postmoderne und Populärkultur fällt. Bei der genauen Betrachtung von Camp und Cultural Studies bleiben die Zusammenhänge zwischen populärer Kultur/Postmoderne und der Entwicklung der Rezeptionsgeschichte innerhalb dieser Theorie nicht verborgen. Die tendenziellen Änderungen der Medienwirkungsforschung ergeben, dass parallel zu Sontags Erkenntnissen über Camp eine Trendwende auszumachen ist. Untersuchungen auf diesem Gebiet beschäftigen sich heute vermehrt mit dem Rezeptionsprozess, während die produktive Ebene zusehends an Gewicht verliert.

Der Grund dafür mag an einem sich in Veränderung befindlichem Kulturbegriff liegen: Unter ihm wird inzwischen – im Gegensatz zur Idee des kunsthistorischen Terminus’ – die Ebene verstanden, auf der soziale Gruppen differenzierte Lebensformen herausbilden bzw. gesellschaftlichen und materiellen Erfahrungen Form verleihen. Barthes’ semiologischer Ansatz dekonstruiert kulturelle Phänomene und alltägliche Handlungen mit Hilfe der Linguistik. In einer ähnlichen Tradition mit Barthes’ Mythen des Alltags (1980) – den »normalerweise verborgenen Regeln, […] mit dem die Bedeutungen einer […] sozialen Gruppe […] zu universalen […] der ganzen Gesellschaft gemacht werden« (Hebdige in Diederichsen: 14, 1983) – steht die Ideologie, die auf der Ebene des »gesunden Menschenverstandes« verborgen liegt und sich als ein System von Vorstellungen im Bereich des Unbewussten strukturell in politischen und kulturellen Institutionen manifestiert. Ideologien werden in gesellschaftlichen Systemen oft in der Form der hegemonialen Macht ausgelebt. Mit einer Hegemonie wird dabei die unerkannte Situation der Herrschaft einer Gruppe über eine andere bezeichnet, wobei diese Gruppen keine festen Einheiten darstellen, sondern eher dynamische Allianzen sind. Subkulturen manifestieren, stärker als die herrschende Kultur, ihre Ideologien auf der Oberfläche, im Stil. Dadurch kennzeichnen sie, anhand von Objekten und Handlungen, ihr »Anderssein«:
Am Beispiel von Hebdiges Aufsatz Subculture – Die Bedeutung von Stil (1983) fällt in Bezug zu Camp die komplexe Struktur im Bereich der Subkulturforschung auf: Hebdige bemüht vielfach die Kultur der Homosexuellen, um an einem Vergleich mit ihr jugendliche Subkultur festzumachen. Ich verwende Erkenntnisse der Jugendkulturtheorie, um Camp zu untersuchen – auf diese Weise schließt sich der Kreis.

(Sub-)Kulturen, Gruppen und Individuen definieren sich durch Identität: d. h., dass Bedeutungszuweisungen nicht allein von Einzelpersonen und ihrer sozialen Prägung ausgehen, sondern in einer Abhängigkeit zu ihrer Identität (als Person, Gruppe, Geschlecht, Rasse, Religion, etc.) stehen. Der postmoderne Zustand äußert sich u. a. in einem unterschiedlichen soziopolitischen Universum, in dem sich Identität aus untereinander abhängigen Semi-Identitäten zusammensetzt. In dem Erkennen, dass dies ein geläufiges Phänomen ist, fühlen sich einzelne Individuen dennoch »ganz«. Beispielsweise existiert eine dialektische Beziehung zwischen schwarzer Identität und weißen Subkulturen, insbesondere der Jugendkultur.

Waters spielt in seinen Filmen mit dieser Beziehung. In Pink Flamingos hauptsächlich durch den von schwarzen Künstler geprägten Soundtrack – auf der inhaltlichen und visuellen Ebene seines Frühwerks hingegen stehen Geschlechteridentitäten und Tabubruch verkörpert durch die hundekotessende filthiest actress alive Babs Johnson/Divine im Mittelpunkt (Transvestismus, Inzest, Kastration, Menschenhandel, Sodomie, Kannibalismus, Fäkalfetischismus etc.), u. a. also der plakative Ausdruck des homosexuellen Identitätskonflikts im Vordergrund. In seinem Hollywood-Erstling Hairspray spricht Waters den der Jugendkultur immanenten Konflikt subtiler an, verborgen in der Beziehung des weißen Mädchens Tracy Turnblad (Ricki Lake) zu dem schwarzen Jungen Link Larkin (Michael St. Gerard) und ihrem Kampf für Rassenintegration.

Jugendkulturelle Identität orientiert sich oft an schwarzer Kultur und übernimmt in einer Art fragmentarisierter Sprache ein System von Zeichen (Musik, Slang, Mode, Ästhetik etc.) Auf der Ebene des politischen und philosophischen Diskurses erweist sich damit die Idee der konfliktlosen Gesellschaft als überholt. Als politische Alternative bleibt der sozialistischen Theorie die Option der Radikalen Demokratie, die sich auf Grund ihrer pluralistischen Beschaffenheit dem »neuen« fragmentarisierten Kosmos besser anpasst. Fragmentarisierung als ein Phänomen der Handlungsebene mündet in verschiedene Techniken, u. a. in die Konzepte der »Bricolage« und »Collage«.

Aus der Anthropologie entlehnt, beschreibt Bricolage ursprünglich eine Methode der Naturvölker, durch die deren verborgene Systeme für »Eingeweihte« dieser magischen Form in einem unterhalb der traditionellen Bedeutungsebene gelegenen Sinn lesbar und sinnstiftend werden. Im Camp funktioniert Filmrezeption als bricoläre Diskursform. Der Bricoleur bringt unter Benutzung eines identischen Gesamtrepertoires an Zeichen das Objekt (Film) in eine andere Stellung (auf der Ebene der Rezeption/Bedeutungsbelegung). Im Resultat wird eine andere Botschaft vermittelt, die nur den Eingeweihten von Camp zugänglich ist.

Die Collage ändert Bedeutungen, indem sie Fragmente des traditionellen Gesamtrepertoires in einer neuen Ordnung zusammenbringt. Pastichebildung als parodistisches Element, das z. B. mit Hilfe der Maske Inkongruenzen darstellt – siehe wieder die Figur der Transvestitin Divine in Waters’ Filmen – und aus der resultierenden ironischen Distanz heraus Gesellschaftskritik übt, ist eine andere Technik, fragmentarisierte Identität zum Ausdruck zu bringen.

Als Erkenntnis lässt sich bemerken, dass dem hermetischen Kunstverständnis der Hochkultur das Werkzeug fehlt, die komplexen Ebenen der populären Kultur, im besonderen denen von Camp, zu entschlüsseln. »Die verschiedenen Perspektiven einer Transformation der ‚Postmoderne’ haben ihren Schnittpunkt in der Ästhetik. Deren postmoderne Befreiung zu einem Denken der Wahrnehmung hat sie aus ihrer Fixierung auf die Kunst gelöst (Pries). Die gewonnene Freiheit zur Wahrnehmung lässt in den historischen Dimensionen eines ‚Eklektizismus’, mit dessen Insinuation die Postmoderne diskreditiert wurde, ein vergessenes Vorspiel eben eines solchen Denkens freier Wahrnehmung entdecken. (Schneider)« (Steffens: 177, 1992)

Sontag ebnete gedanklich den Weg in eine neue Richtung, mit deren Hilfe populäre Phänomene durchschaubar werden: eine Theorie der aktiven Rezeption. Möglich wurde diese Betrachtungsweise auf Grund eines übergelagerten Paradigmenwechsels, der u. a. auf die Verschiebung der Moderne zu einem Nach der Postmoderne zurückzuführen ist. »Es geht um die Rückgewinnung des offenen Denkens ohne die Fesseln einer lähmenden Hoffnung, von den Beschwernissen der Zeit losgekommen, indem eine für beendet und eine andere für begonnen erklärt wird. „Nach der Postmoderne“ heißt mithin: „inmitten der durch sie geklärten Situation“.« (Steffens: 13, 1992)

Die Idee des passiven Medienkonsums scheint angesichts aktueller Entwicklungen der Technologie (Neue Medien etc.) und Erkenntnissen im Bereich der Kultur- und Medienwissenschaften überholt. In großem Maße kamen die Untersuchungsergebnisse durch die interdisziplinäre Verknüpfung verschiedener wissenschaftlicher Diskurse zustande, die einerseits in neue Fachbereiche gipfelte (z. B. Gender/Cultural Studies, feministische Theatertheorie), andererseits den traditionellen Wissenschaften neue Richtungen aufzeigte und analog theoretische Überlegungen der Moderne (vgl. Horkheimer/Adorno in Dialektik der Aufklärung: 1984) – den Mythos der unmündigen Rezeption – durch empirische Untersuchungen widerlegt fand. Im Zuge dieses Erkenntnisprozesses verliert Stil seine zentrale Stellung zur Klassifikation einer Subkultur, an seine Stelle tritt das Konzept der Identität. Mit Bricolage, Collage und Pastichebildung entstehen so die neuen Patchwork-Subkulturen.

Auf diese Weise konnte sich das Phänomen Camp etablieren, da es auf diesem Weg – nicht zuletzt wegen seiner Betonung der rezeptiven Beteiligung – eine zentrale Stellung innerhalb der gegenkulturellen Filmgeschichte und bei dessen Publikum etablieren konnte und heute eine Komponente vieler, ganz verschiedener Subkulturen ist. Die Massen der ineinander verwobenen und voneinander partizipierenden Subkulturen formen eine neue marginale Mainstream-Kultur – und dadurch wird Waters als Filmemacher für Hollywood interessant. Sein subkulturell geprägter Mainstreamfilm (ver-)birgt sein subversives Potenzial auf seiner subtilen Ebene der kodierten (Film-)Sprache. Waters entspricht in den subtileren Strukturen seines Spätwerks (z.B. Hairspray) in einem höheren Maß dem Konzept von Camp im Vergleich zu seinem mehr auf Schockeffekte abzielenden frühen Kultfilm Pink Flamingos. Dies erklärt auch das höhere Ansehen, welches Hairspray und der späte Waters’sche Film beim sowohl homosexuellen als auch Mainstream-Publikum genießt – die einen erfreuen sich am Dekodieren des Subtextes, die anderen an der oberflächlichen Botschaft. Das trennt die homosexuellen Fans von Waters’ anderen subkulturellen Fans, die oft sein Frühwerk bevorzugen. Konventionelle Fans lesen in Hairspray die Message der Rassenintegration, historischen Ästhetik, des Humors etc. Trotz eines potenziell großen Publikums aufgrund seiner multiplen Texte erreicht ein Hollywood-Camp-Film wie Hairspray dennoch nicht den Verkaufserfolg des traditionellen Erzählkinos, sondern eignet sich hauptsächlich für den marginalen Mainstream.

Larissa Clara Vogt

Literatur:

  • Babuscio, J.: Camp and the Gay Sensibility. In: Dyer, R. (Hrsg.): Gays and Film. London 1977
  • Hebdige, D.: Subculture – die Bedeutung von Stil. In: Diederichsen, D./Hebdige, D./Marx, O.-D.: Schocker – Stile und Moden der Subkultur. Hamburg 1983
  • Hermes, M.: Legitim oder illegitim, das ist hier nicht die Frage. In: Baukrowitz, R./Günther, K. (Hrsg.): Team Compendium: Selfmade Matches. Hamburg 1996
  • Horkheimer, M./Adorno, T. W.: Die Kulturindustrie. In: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1984
  • Mc Robbie, A.: Postmodernism and Popular Culture. London 1994
  • Sontag, S.: Notes on Camp. In: Against Interpretation and other Essays. London 1967
  • Steffens, A. (Hrsg.): Nach der Postmoderne. Düsseldorf 1992
  • Vidal, G.: Duluth wie Dallas. Berlin 1984
  • Vogt, L.: Camp als populärkulturelles Phänomen am Beispiel der Filme von John Waters. Berlin 1997 (unveröffentlicht)
  • Auswahl-Filmographie (Filme mit Divine, ab 16 mm): Eat your Makeup (1968), Mondo Trasho (1969), Multiple Maniacs (1970), Pink Flamingos (1972), Female Trouble (1974), Desparate Living (1977), Polyester (1981), Hairspray (1988)

Über die Autorin:

Larissa Clara Vogt arbeitete während und nach ihrem Studium der Theaterwissenschaft und Publizistik u. a. als Musikjournalistin. Sie untersuchte im Rahmen ihrer Magistraarbeit die Rolle des Camp im kontemporären Hollywood-Kino. Nebenbei versuchte sie sich als Schlagersängerin des Comedy Acts »Schlagsahne« und trat 1996 beim ersten internationalen Varieté & Comedy Festival in Berlin auf. Auch heute lebt sie in der Hauptstadt. Als Senior PR Managerin bei der MAGIX AG koordiniert sie die externe und interne Kommunikation von Personal Rich Media Software mit dem Schwerpunkt Musiksoftware und betreut Medienkooperationen.

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