Jedem sein Kino

Die internationalen Filmfestspiele in Cannes feierten dieses Jahr ihr 60-jähriges Bestehen. Zeit, diesem vielleicht wichtigsten Festival des Kinos überhaupt einmal ein Dankeschön auszurichten und ein filmisches Denkmal zu setzen. Wer wäre geeigneter dazu als die zahlreichen Regisseure, die dort Preise gewonnen, Berühmtheit erlangt und sich in den Juries engagiert haben? „Chacun son Cinéma“ – „Jedem sein Kino“ heißt eine Komplilation mit 33 Kurzfilmen von 36 Regisseuren, jeder nur wenige Minuten lang und alle mit einem zentralen Thema: Das Kino muss darin vorkommen.

Aus der herrlichen Vielfalt der Beiträge seien nur einige als Beispiele herausgegriffen: David Cronenbergs Film „At the Suicide of the Last Jew in the World in the Last Cinema in the World“ zeigt den Regisseur selbst, in einer Kinotoilette, wie er sich einen geladenen Revolver an den Kopf hält, im Begriff sich gleich umzubringen. Er ist der letzte Jude der Welt, der sich im letzten noch existierenden Kino der Welt das Leben nehmen will. Kommentiert wird sein Handeln von einem Pärchen aus dem Off, das dabei eine Diktion wie sie sonst auf Festival-Berichterstattungen üblich ist, an den Tag legt. Ein anderes Beispiel: Ein japanischer Bauer betritt mitten in der Agareinöde ein Gebäude, ein Kino. Er zieht eine Karte, setzt sich in den Vorführraum, doch die Leinwand bleibt schwarz. Dann startet der Film, bricht nach wenigen Sekunden jedoch wieder ab. Aus dem Vorführraum dringen Entschuldigungen. Dann geht der Film irgendwo in der Mitte weiter, nur um kurz darauf – dieses mal schmort der Filmstreifen – wieder abzubrechen. Noch einmal entschuldigt sich der Vorführer (vom Regisseur des Kurzfilms, Takashi Kitano, gespielt). Nach einer weiteren Verzögerung startet der Film wieder: Der Bauer sieht den Abspann und verlässt das Kino. Oder: Ein Däne trifft sich mit einer Araberin in einem Kopenhagener Kino. Sie spricht kein Wort dänisch, er entschließt sich, ihr den Film simultan ins Englische zu übersetzen. Drei rechtsradikal angehauchte Mitgucker stört das Gerede, sie schleudern fremdenfeindliche Äußerungen in den Saal und werden daraufhin vom Chef des Kinos des Hauses verwiesen. Der Däne will das Kino ebenfalls verlassen, die Araberin den Film aber weitersehen. Er geht mit ihr in den Vorraum, sie hat jedoch ihren Motorradhelm drin vergessen. Er holt ihn und als er wiederkommt ist sie verschwunden. Nach kurzer Suche findet er sie und die drei „Rechten“ im Vorführraum wieder, wie sie sich den Film von oben herab ansehen. Die drei Männer übernehmen nun die Synchronisationsarbeit.

Die Vielfältigkeit der Beiträge ist einerseits der Internationalität ihrer Regisseure geschuldet, die oft die in ihren Heimatländern je sepzifische Kinosituation in den Filmen reflektieren. Wir lernen großartig ausgestattet Kinos in westlichen Metropolen kennen, kleine heruntergekommene Vorführsäle an den Stadträndern oder in Dörfern, aber auch Behelfs-Kinos, die lediglich aus einem aufgespannten Betttuch bestehen und einem Projektor, der von launischen Vorführern betrieben wird. Es gibt Episoden, die spielen im Kino, während der Vorführung, dann welche, die ds GEschehen vor dem Kino zeigen, dann welche, in denen nur von Kino gesprochen wird. Andererseits ist es aber natürlich auch die spezifische Handschrift eines jeden der 36 Filmkünstler, die sich in die Werke einschreibt. Dass die Filme von Cronenberg, den Coens, David Lynch oder Roman Polanski eher skurril sind, andere dafür, wie der Wong Kar Wais oder Theo Angelopoulos‘ eher sentimental, dritte wiederum, wie der Wim Wenders‘ aufrüttelnd – das ist gerade der Wert einer solchen Kurzfilmsammlung. „Chacun son Cinéma“ ist ein Geburtstagsgeschenk für Cannes, das besser kaum zu denken wäre: abwechslungsreich, amüsant, kritisch, tiefsinnig und verliebt.

Happy Birthday Kino
(Chacun son Cinéma, Div. 2007)
Regie: Theodoros Angelopoulos,  Olivier Assayas, Bille August, Jane Campion, Youssef Chahine, Kaige Chen, Michael Cimino, Ethan Coen, Joel Coen, David Cronenberg, Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne, Manoel de Oliveira, Raymond Depardon, Atom Egoyan, Amos Gitai, Alejandro González Iñárritu, Hsiao-hsien Hou, Aki Kaurismäki, Abbas Kiarostami, Takeshi Kitano, Andrei Konchalovsky, Claude Lelouch, Ken Loach, David Lynch, Nanni Moretti, Roman Polanski, Raoul Ruiz, Walter Salles, Elia Suleiman, Ming-liang Tsai, Gus Van Sant, Lars von Trier, Wim Wenders, Kar Wai Wong, Yimou Zhang
Länge: 100 Minuten
Verleih: Kinowelt

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