Michio wohnt hier nicht mehr

Ein stockfinsteres Atelier, darin zwei Personen, der blinde Bildhauer Michio und das hübsche Fotomodell Aki, umgeben von Wänden, die über und über mit modellierten Körperteilen übersät sind, und zwei gigantische liegende Pappmaché-Torsos in der Mitte des Raums: Dies ist der ebenso bizarre wie unheimliche Handlungsort von Yasuzo Masumuras modernem Klassiker „Blind Beast“ nach einer Geschichte des japanischen Mystery-Autors Edogawa Rampo, der sich anschickt, die Grenze zwischen Leben und Kunst abzustecken.

blindbeast.jpgDie attraktive Aki (Mako Midori) ist als Modell für sadomasochistische Fotografien ein Star geworden. Dieser Ruf lockt Verehrer auf den Plan: Einer davon ist der blinde Bildhauer Michio, der Aki zusammen mit seiner Mutter entführt und in sein Atelier, eine verlassene Fabrikhalle, bringt. Dort will er Aki so lange einsperren, bis sie einwilligt, ihm Modell zu stehen. Mithilfe seines ausgeprägten Tastsinns will Michio das ultimative Kunstwerk schaffen. Nach anfänglicher Weigerung willigt Aki schließlich ein – nicht zuletzt weil sie die Hoffnung auf eine sich bietende Fluchtmöglichkeit noch nicht verloren hat. Doch langsam entsteht eine Liebesbeziehung zwischen ihr und Michio, was die Situation aber nicht entschärft, sondern sie im Gegenteil eskalieren lässt …

Masumuras Schlüsselfilm für die Thematisierung sadomasochistischer Beziehungen im japanischen Kino bietet für eine inhaltliche und formale Analyse gleich mehrere Ansätze: Auf der inhaltlichen Seite fällt vor allem das Verhältnis von Körperlichkeit und Künstlichkeit, Leben und Kunst ins Auge, zweier sich zunächst anscheinend konträr zueinander verhaltender Pole, die im Verlauf des Films jedoch mehr und mehr in Deckung gebracht werden. Der blinde Michio will ein Kunstwerk erschaffen, das als eine Huldigung an den Tastsinn verstanden werden soll. Im Schöpfungsprozess, der für Michio identisch mit dem Liebesspiel ist – „echten“ Sex hatte er aufgrund seiner Blindheit und der daraus resultierenden Minderwertigkeitskomplexe, die seine Mutter noch weiter befördert hat, noch nie – dupliziert er nun Akis Körper, in den er sich wiederum anhand einer Statue „verliebt“ hat. Jedoch entwirft Michio nicht bloß ein Abbild von ihr: Sein Kunstwerk wird vielmehr identisch mit seinem Modell. Als Aki am Schluss in sexueller Ekstase unter seiner Hand stirbt, zerfällt auch ihre Statue. In seiner Handlung liegt Masumura damit auf einer Linie mit vielen anderen „Künstlerfilmen“, in denen die Kunst zur Gefahr wird, je mehr sie einen Autonomieanspruch gegenüber dem echten Leben beansprucht. Weil Michio glaubt, das Leben – das für ihn nur aus Berührung besteht – abbilden und es substituieren zu können, zerstört er es.

Diese Obsession Michios, seine die Gier nach Berührungen, wird in Masumuras Film radikal veräußerlicht: Bis auf eine kurze Exposition spielt der ganze Film in seinem Atelier, das als räumliche Entsprechung seiner Psyche verstanden werden darf. Die Wände des dunklen Raums (Tageslichtszenen gibt es in „Blind Beast“ überhaupt nicht) sind wie schon erwähnt mit von Michio modellierten Gliedmaßen, Augen, Ohren, Mündern und Brüsten bedeckt, die teilweise weit in den Raum hineinragen und von der Sehnsucht ihres Künstlers nach Berührung ebenso künden wie sie seine bis zur Besessenheit gesteigerte Lust symbolisieren. Aki selbst expliziert eine solche anthropomorphe Interpretation des Raums, wenn sie von den beiden gigantischen Frauenkörpern in dessen Mitte auf den Mutterkomplex Michios schließt. Ihre These wird später bestätigt, wenn Michio seine Mutter nach ihrem Tod direkt neben seinen Skulpturen im Boden des Ateliers vergräbt und sie an den ekstatischen Liebesspielen mit Aki teilhaben lässt. Und Aki nähert sich ihrem Verehrer umso mehr an, je länger sie mit ihm in dessen Atelier weilt: Äußert sich ihre Verwandtschaft zuerst nur in der gegenseitigen Zuneigung, so entwickelt Aki schon bald eine ähnlich psychische und physische Disposition: Sie verliert sowohl ihr Augenlicht als sie auch der Macht der blinden Berührung erliegt. Ohne jeglichen Bezug zur Außenwelt, ohne Möglichkeit, sich selbst vom anderen zu unterscheiden, sind Michio und Aki verloren: In ihrer Lust streben sie immer neue Erregungszustände an, die schließlich in der Zerstörung ihrer Körper enden müssen, um einen neuen seelischen Aggregatszustand zu erreichen. Die beiden leeren Körperhüllen bleiben in einem an morbide Installationskunst erinnernden Ensemble zurück, Masumuras Film schließt folgerichtig mit einer Außenaufnahme des einsamen Fabrikgebäudes: Michio wohnt hier nicht mehr.

Blind Beast
(Môjû, Japan 1969)
Regie: Yasuzo Masumura, Drehbuch: Yoshio Shirasaka, Kamera: Setsuo Kobayashi, Musik: Hikaru Hayashi, Schnitt: Tatsuji Nakashizu
Darsteller: Eiji Funakoshi, Mako Midori, Noriko Sengoku
Länge: 86 Minuten
Verleih: Rapid Eye Movies

Zur DVD von Rapid Eye Movies

Rapid Eye Movies präsentiert den Film auf der DVD in technisch ansprechender Form, allerdings ohne deutsche Tonspur und nennenswerte Extras.

Zur Ausstattung der DVD:
Bild: 2,35:1
Ton: Japanisch (Dolby Digital 2.0 Stereo)
Untertitel: Deutsch
Extras: Trailer, Posterkarten zur Nippon-Classics-Reihe
Länge: ca. 86 Minuten
Freigabe: ab 16
Preis: 21,89 Euro

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