Die Summe deiner Eltern

Der New Yorker Entymologe Mel Coplin (Ben Stiller) steckt in der Identitäskrise: Er kann seinem neugeborenen Sohn keinen Namen geben, bevor er nicht weiß, wer seine leiblichen Eltern sind. Also hat er Tina Kalb (Téa Leoni), eine Mitarbeiterin der Agentur, die Mel einst an das jüdische Intellektuellenehepaar Pearl und Ed Coplin (Mary Tyler Moore und George Segal) vermittelte, damit beauftragt, seine echten Eltern ausfindig zu machen: mit Erfolg. Und so begeben sich Mel und seine Ehefrau Nancy (Patricia Arquette) bald schon mit Tina auf die Suche nach Mels Wurzeln quer durch die Vereinigten Staaten, die von einigen Katastrophen gesäumt ist …

flirting.jpgDer jüdische New Yorker Mel Coplin ist ein Woody-Allen-Charakter durch und durch. Und was wäre ein solcher ohne hübsche Identitätskrise? Mel vermisst die innere Einheit, die er seinem Leben nicht geben kann und sich nun von außen – in Form eines neuen Elternpaares – erhofft. Ironischerweise verliert er jedoch seine Identität, je näher er ihr zu kommen glaubt: Im Haus der neureichen Republikanerin Valerie Swaney (Celia Weston) (komplett mit Reagan-Porträt an der Wand) aus einer traditionsreichen Südstaatenfamilie ist er schon kurz davor, seinen Sohn „Beauregard“, nach seinem angeblichen Großvater, einem alten Konföderiertengeneral, zu nennen; später, als er seinen Vater in dem Detroiter Lastwagenfahrer, Rassisten und ehemaligen Hell’s Angel Fritz Boudreau (David Patrick Kelly) gefunden zu haben glaubt, meint er, schon immer den Wunsch verspürt zu haben, einen Truck zu fahren. Auf der letzten Station seiner Reise lässt er sich dann sogar zu einer Liaison mit der neurotischen und hoch nervösen Tina hinreißen, während seine Gattin wiederum mit dem bisexuellen Polizisten Tony (Josh Brolin) anbändelt. Aber auch räumlich hat er sich denkbar weit von seinem bisherigen Leben entfernt: Von New York hat es ihn bis in den äußersten Südwesten der USA, nach New Mexico zum LSD produzierenden Hippie-Pärchen Schlichting (Lily Tomlin und Alan Alda), verschlagen.

Identität ist in David O. Russells (u. a. „Three Kings“ und „I Heart Huckabees“) Film ein Patchwork aus verschiedensten Einflüssen und setzt sich zusammen wie eine Landkarte. Mels Suche nach seinen Wurzeln ist somit ganz logischerweise auch eine Reise durch Amerika: Aus dem europäischen New York verschlägt es Mel ins sonnige, oberflächliche San Diego, von da geht die Reise ins tristgraue, winterliche Detroit, bevor er endlich bei seinen echten Eltern – und in der Wüste – landet. „Flirting with Disaster“ ist ein klassisches Road Movie, dessen Reise sich sowohl auf Straßen, Highways und Luftlinien vollzieht als auch in den Landschaften der Seele. Und genauso wenig wie sich das eine „echte“ Amerika finden lässt, kann Mel nicht diese eine Quelle finden, aus der sich seine Identität speist. Mel ist mehr als die Summe der Teile, die ihn konstituieren: Zwar erfährt er, wo er herkommt, noch mehr aber, wo er hingehört. Es ist nicht der Ort von dem wir herkommen oder der, an dem wir uns befinden, der bestimmt, wer wir sind, sondern der Weg, den wir zurückgelegt haben. Diese Erkenntnis kommt ihm sicherlich nicht zufällig in der metaphorisch aufgeladenen Landschaft der Wüste, der geologischen Tabula Rasa, in der LSD die „doors of perception“ öffnet. Von hier aus kann Mel neu anfangen – und seinen Sohn benennen.

„Flirting with Disaster“ ist eine wunderbare, intelligente Komödie, die von herausragenden Leistungen ihrer Schauspieler geadelt wird und ebenso geist- wie einfallsreich ist. Die skurrilen Charaktere – vor allem das Hippie-Ehepaar mit dem unaussprechlichen Namen Schlichting und das homosexuelle Polizistenpaar Tony und Paul (Josh Brolin und Richard Jenkins) sind hier zu nennen – bleiben immer realistisch und werden nie für billige Gags verheizt, sondern sehr glaubwürdig gezeichnet. Diesem Realismus entspricht auch die Kameraarbeit von Eric Edwards, der den Charakteren mit der Handkamera dicht auf die Pelle rückt und sich stilistisch dem Video annähert, auf dem Tina Mels „Fortschritte“ festhält. Zentrum des Films ist aber eindeutig Ben Stiller, der hier vor seinem großen Durchbruch beweist, dass er nicht nur den Brüllhumor des Frat Packs beherrscht, sondern auch die leiseren Töne. „Flirting with Disaster“ bietet dennoch zahlreiche Lacher und hält auch der Prüfung mehrerer Sichtungen mühelos stand.

Flirting with Disaster – Ein Unheil kommt selten allein
(Flirting with Disaster, USA 1996)
Regie: David O. Russell, Drehbuch: David O. Russell, Kamera: Eric Edwards, Musik: Stephen Endelman, Schnitt: Christopher Tellefsen
Darsteller: Ben Stiller, Patricia Arquette, Téa Leoni, Lily Tomlin, Alan Alda, George Segal, Mary Tyler Moore, Josh Brolin, Richard Jenkins
Länge: ca. 89 Minuten
Verleih: Kinowelt

Zur DVD von Kinowelt

Nachdem der Film vor Jahren schon einmal von VCL auf DVD herausgebracht wurde, in einer Version ohne jegliche Extras, bringt Kinowelt den Film nun in einer reichhaltig ausgestatteten Version auf den Markt, für die ich eine unbedingte Kaufempfehlung aussprechen möchte. Unter anderem finden sich ein Making of, Deleted Scenes, Outtakes und Interviews auf der DVD, deren Bild- und Tonqualität ebenfalls ausgezeichnet ist.

Zur Ausstattung der DVD:
Bild: 1,85:1
Ton: Deutsch, Englisch (Dolby Digital 5.1)
Extras: Making-of, Deleted Scenes, Outtakes, Trailer, Interviews, Fotogalerie, Patricias Notizen
Länge: ca. 89 Minuten
Freigabe: ab 12
Preis: 19,99 Euro

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