Ein Superhirn in Aktion

Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes darf als eine der berühmtesten fiktiven Figuren der Literaturgeschichte bezeichnet werden. Mehr noch: Wie kaum einem zweiten erfundenen Charakter ist es dem Meisterdetektiv gelungen, die Restriktionen der Fiktion hinter sich zu lassen und zur Persönlichkeit des öffentlichen Lebens zu werden. In London pilgern auch 130 Jahre nach seinem ersten Auftritt immer noch Fans und Touristen in die Baker Street 221B und besichtigen dort seine Wohnung, die er doch in Wahrheit niemals betreten hat. Seine immense Popularität verhalf ihm auch in der Welt des Films zu früher Präsenz. Sein erster dokumentierter Leinwandauftritt – ein 30-sekündiger Stummfilm namens „Sherlock Holmes baffled“ – datiert auf das Jahr 1900; insgesamt listet die IMDb 87 Filme, die sich explizit der Doyleschen Figur annehmen.

baskerville.jpgEiner der wohl berühmtesten Sherlock-Holmes-Darsteller war der Südafrikaner Basil Rathbone (1892 – 1967), der den Detektiv zwischen 1939 und 1946 insgesamt 15-mal verkörperte und ihm die mit dieser Figur assoziierten kultiviert-asketisch anmutenden Gesichtszüge verlieh. „Der Hund von Baskerville“ und „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“ (beide 1939), seine beiden ersten Auftritte als Sherlock Holmes, stammen aus der goldenen Zeit der Universal Studios, die nicht zuletzt durch Horrorfilme – man denke an „Frankenstein“ und „Frankensteins Braut“, an „Dracula“, „Der Wolfsmensch“, aber auch an „Die Mumie“ oder „Das Phantom der Oper“ – geprägt war. Ihr markanter Stil, eine publikumswirksame Adaption des deutschen Expressionismus, schlägt sich auch in den beiden Doyle-Adaptionen, vor allem aber in „Der Hund von Baskerville“ nieder, der die surreal anmutenden Sumpflandschaften des Dartmoors zum heimlichen Star macht, dem sich auch der Meisterdetektiv unterzuordnen hat. Sherlock Holmes ist über weite Strecken des Films abwesend, überlässt seinem Assistenten Dr. Watson (Nigel Bruce) das Feld, freilich nicht ohne im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Seine Gabe der deduktiven Logik und seine messerscharfe Kombinationsgabe sind in „Der Hund von Baskerville“ hingegen kaum gefragt: Beweise gibt es nicht und so ist es hier vor allem der unfehlbare Instinkt, der Holmes zur Lösung des Mordfalls führt. Dabei geht er vor wie ein neumodischer Profiler: Er versetzt sich in die Lage des Mörders und versucht, dessen Vorgehen durch bloße Vorstellungskraft nachzuvollziehen. Die Abwesenheit jeglicher greifbarer Indizien wird für Holmes somit nicht zum Hindernis, sondern vereinfacht die Suche nach dem Täter geradezu. Seine Ermittlungsarbeit ist eine self-fulfilling prophecy: Er enttarnt den Mörder nicht durch die Tätigkeit seines überlegenen Intellekts, sondern letztlich nur, weil er Sherlock Holmes ist. „Der Hund von Baskerville“ wird so zum Gradmesser für die Popularität seines Titelhelden, dessen definierenden Charakterzüge gar nicht mehr entwickelt, ja, noch nicht einmal mehr behauptet werden müssen.

abenteuer.jpgIn dem auf einem Theaterstück basierenden „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“ trifft der Detektiv auf seine Nemesis, den Superverbrecher Professor Moriarty (George Zucco). Diesen „Napoleon of crime“, wie Doyle ihn selbst bezeichnete, erfand er, um dem unfehlbaren Holmes einen ebenbürtigen Gegner gegenüberzustellen und ihn in letzter Konsequenz zu ermorden. Gleichzeitig erschuf Doyle mit dieser Figur so etwas wie den Prototypen späterer Superschurken, den Vorgänger eines Blofelds, Lex Luthors oder Jokers. Doch anstatt ihn endlich vom lästig gewordenen Holmes zu befreien, stürzte Moriarty seinen Erfinder nur noch tiefer in die Serialität. Mit der Erfindung des Superschurken schlich sich nämlich ein nicht zu unterschätzendes strukturelles Problem durch die Hintertür ein: Um sowohl den Ruf des Superhelden als auch den des Superschurken zu wahren, kann es im Duell zwischen den beiden keinen dauerhaften Sieger geben – einer der Gründe für die Auferstehungs- und Wiederbelebungsarien des Horrorfilms und des Superheldencomics.

Diese Serialität spiegelt sich auch in „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“. Zwar tritt Moriarty innerhalb der Universal-Filmreihe zum ersten Mal auf, jedoch wird er schon als „alter Bekannter“ eingeführt: Der Film beginnt mit einer Gerichtsverhandlung, bei der Moriarty vor den Augen des empörten Holmes’ freigesprochen wird. In einem unmittelbar folgenden Gespräch betonen sowohl Holmes als auch Moriarty ihre Bewunderung für den jeweils anderen, gestehen aber auch den Wunsch, den anderen zu besiegen. Dieser Wunsch treibt Moriarty sofort zur Planung seines nächsten Coups, dem Raub der Kronjuwelen. Mittels falscher Fährten und gestreuter Hinweise lenkt er den Detektiv von der eigentlichen Tat ab, lässt ihn aber gleichzeitig immer wieder an sich herankommen. Der Kampf der Superhirne erinnert somit an den Flirt und das Liebesspiel, ist gleichermaßen von Annäherung und Abweisung sowie der genauen Kenntnis der Denk- und Handlungsweisen des Gegenübers geprägt. So besteht Moriartys Köder für Holmes in einem fingierten Brief im Namen einer Dame, in dem diese Holmes fragt, ob sie einer Einladung zu einem Empfang nachkommen solle. Gerade die Trivialität dieses Briefes weckt das Interesse Holmes’: Ein an ihn adressierter Brief können unmöglich aus solch unwichtigem Anlass geschrieben worden sein, also müsse sich mehr dahinter verbergen. Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen den beiden Kontrahenten offenbart mehr von dem Genie des Detektivs als noch „Der Hund von Baskerville“, bietet mehr erzählerische Raffinesse, steht dafür aber auf visueller Seite etwas zurück: Das Geschehen spielt sich über weite Strecken in abgeschlossenen Räumen ab – nicht ganz unpassend für einen Film, der seine Zuschauer direkt in die Köpfe seiner beiden Hauptfiguren zu entführen sucht.

Aus filmhistorischer Sicht sind beide Holmes-Verfilmungen von einiger Bedeutung: Basil Rathbone war seinerzeit einer der größten Stars der Universal Studios und gilt auch heute noch vielen als der Sherlock-Holmes-Darsteller schlechthin. Für die Auseinandersetzung mit dem Kriminal-, Polizei- oder Serienkillerfilm eröffnen beide Filme zudem viele interessante Perspektiven und sind unumgänglich. Und dem von den Errungenschaften moderner Filmtechnik gestressten Auge bieten sie außerdem in ihrer wunderbar unaufgeregten und entspannten Inszenierung die dringend benötigte Erholung.

Der Hund von Baskerville
(The Hound of the Baskervilles, USA 1939)
Regie: Sidney Lanfield, Drehbuch: Ernest Pasal, Kamera: J. Peverell Marley, Musik: David Buttolph, Charles Maxwell, Cyril J. Mockridge, David Raksin, Schnitt: Robert L. Simpson
Darsteller: Basil Rathbone, Nigel Bruce, Richard Greene, Lionel Atwill, Wendy Barrie, John Carradine
Länge: 77 Minuten

Die Abenteuer des Sherlock Holmes
(The Adventures of Sherlock Holmes, USA 1939)
Regie: Alfred L. Werker, Drehbuch: William Gillette, Edwin Blum, William A. Drake, Kamera: Leon Shamroy, Musik: Robert Russell Bennett, David Buttolph, Cyril J. Mockridge, David Raksin, Walter Scharf, Schnitt: Robert Bischoff
Darsteller: Basil Rathbone, Nigel Bruce, George Zucco, Ida Lupino, Alan Marshal, Terry Kilburn
Länge: 79 Minuten

Zu den DVDs von Koch Media

Im Rahmen der „Sherlock Holmes Collection“ waren sowohl „Der Hund von Baskerville“ als auch „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“ bisher nur als Bestandteile verschiedener Box-Sets erhältlich, nun erscheinen sie auch als Einzel-DVDs. Bild und Ton sind am Alter der Filme gemessen äußerst zufrieden stellend (beide wurden digital remastert), neben der deutschen Synchronisation sind sowohl die alten DDR-Synchronisationen enthalten als auch jeweils ein Audiokommentar.

Zur Ausstattung der DVDs:

Der Hund von Baskerville
Bild: 1,33:1
Ton: Deutsch, Englisch (Dolby Digital 2.0 Mono)
Extras: Bildergalerie, Audiokommentar von David Stuart Davies
Länge: 77 Minuten
Freigabe: ab 12
Preis: 14,99 Euro

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Die Abenteuer des Sherlock Holmes
Bild: 1,33:1
Ton: Deutsch, Englisch (Dolby Digital 2.0 Mono)
Extras: Bildergalerie, Audiokommentar von Richard Valley
Länge: 79 Minuten
Freigabe: ab 6
Preis: 16,45 Euro

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