Die Interessen Grisus können unmöglich die Interessen sein, die Sir Cedric hat.

1977 reüssierte im deutschen Fernsehen die zwei Jahre zuvor in Italien entstandene Zeichentrickserie um den kleinen Drachen Grisu. Grisu lebt im Schottland im Drachental zusammen mit seinem Vater Fume. Der kleine Drache ist von dem Wunsch beseelt, Freuerwehrmann zu werden. Damit stößt er einerseits auf das Unverständnis seines Vaters, der es als die traditionsgemäße Pflicht der Drachen ansieht, Feuer zu entfachen anstatt es zu löschen. Auf der anderen Seite handelt er damit den Interessen des Grafen Sir Cedric McDragon zuwider, unter dessen feudaler Obhut das Drachental steht und der deshalb entscheiden kann, ob Grisu Feuerwehrmann werden darf oder nicht. Die Serie, die seit den 1970er Jahren häufig im deutschen Fernsehen wiederholt wurde, ist nun in einer limitierten 4er-DVD-Box erschienen.

Die Welt von Grisu ist zwischen zwei Systemen angesiedelt ist: Einem feudalistisch-traditionellen und einem kapitalistisch-bürgerlichen. Die Abenteuer des kleinen Drachen handeln stets davon, dass er der einen Welt, die ihn bedrängt, zu entfliehen versucht und glaubt, in der anderen Welt die Erfüllung seiner Wünsche zu erleben. Dass die Entscheidung für die eine oder andere Seite jedoch stets eine zwischen Scylla und Charybdis ist, muss Grisu in jeder Folge der von Toni und Nino Pagot konzipierten Serie feststellen. Sein Schicksal hat etwas sisyphonisches, wenn er zu Beginn jeder Episode an den Grafen Sir Cedric, dessen wohlstandsbeleibte Ehefrau Lady Rowena und den versnobten Hund Stuffy herantritt, um mal mit gelangweiltem, mal sarkastischem stets jedoch ablehnendem Tonfall zu erfahren, dass in der Grafschaft „derzeit“ keine Feuerwehrleute eingestellt werden. Anstelle dessen wird dem kleinen, stets hilfsbereiten und auf alles neugierigen Drachen ein immer neuer Beruf anempfohlen. Mit Hilfe von Empfehlungsschreiben des Grafen (der sich selbst einmal als Mitglied im global operierenden „Verein zur Bewahrung der Humanität“ ausweist) wird Grisu so mal Zugführer, Astronaut, Landwirt, Polizist – aber auch Geheimagent, Kernphysiker, Admiral zur See und bleibt dabei doch immer wieder nur Bediensteter (zeitweise sogar als Wachhund oder Hausdiener) des Grafen selbst.

grisu1.jpgEs fällt dem erwachsenen Zuschauer der Serie schwer, hinter dem Konzept von „Grisu – Der kleine Drache“ einzig Unterhaltung für Kinder zu sehen. Zu stark insistiert die Serie durch Wiederholungen auf einzelne Aspekte und offenbart damit eine quasi-politische Systemkritik fürs Kinderzimmer. Einerseits wird der stets seiner sozialen Rolle und dem gesellschaftlichen Fortschritt verpflichtete Grisu („Ich habe immer gesagt: Wir brauchen nicht mehr Feuer, wir brauchen mehr Blumen!“) im unermüdlichen Widerstreit gegen die überkommene Tradition (in Form seines durch die Toursimus-Industrie als Leuteschreck ausgebeuteten Vaters) und gegen die scheinbaren Edikte der gesellschaftlich Höhergestellten (in Form des arroganten Cedric und seiner alles ermöglichenden Seilschaften) gezeigt. Obwohl Grisu beiden Systemen stets die Stirn bietet, gelingt es ihm – ist das lediglich das Gesetz der Serie? – doch nie, daraus auszubrechen. Er bleibt der Familie einerseits und seinem – wie er ihn selbst immer wieder nennt – „Freund“, „Gönner“ und „Wohltäter“ Sir Cedric andererseits verpflichtet. Symbol für dieses Klassenschicksal ist sein Feuerstrahl: Er entfährt Grisu immer dann, wenn er es gerade geschafft hat, sich zu behaupten und zwingt ihn damit – quasi mit Naturgewalt – zurück ins System.

grisu2.jpgDie Gründer des Studios, in dem „Grisu“ entstand, Nino und Toni Pagot, haben bereits vor dem zweiten Weltkrieg Zeichentrickfilme produziert. In der Nachkriegszeit waren sie unter anderem auch damit beschäftigt, Werbung zu konzipieren, um ihre avanciereren Projekte gegenzufinanzieren. Gerade letztere Tatsache verbindet sie auch ideell mit dem kleinen Grisu und man kann sich vorstellen, dass die „Sachzwänge“, die im Alltag des Studios genauso herrschten, wie im Drachental Grisus, ihren Niederschlag in genau jener Auswegslosigkeit gefunden haben, die die Serie von Episode zu Episode abbildet. Dass man sich mit seinem Schicksal, sei es nun genetisch ererbt, von der Obrigkeit diktiert oder von der Tradition „vorgeschrieben“ nicht abfinden muss und seinen Traum verfolgen soll – für dieses aufklärerische Ideal tritt der Drachenjunge ein und gibt es an seine kleinen (und großen) Zuschauer weiter. Denn trotzdem er es nie schafft Feuerwehrmann zu werden und sein Vater ihm in einer Episode sogar erzählt, er habe selbst diesen Traum verfolgt, ihn aus Vernunftgründen jedoch aufgegeben, lässt sich Grisu nicht davon abbringen – und lernt auf diese Weise die Welt, ihre Herrscher und Opfer kennen und nicht zuletzt sich seine eigenen Grenzen zu stets neu zu stecken.

Grisu – der kleine Drache
(Draghetto Grisù, Italien 1975-1977)
Regie & Buch: Nino und Toni Pagot; Musik: Ferdinando Palermo, Vittorio Sforzi, Guiseppe Verdi
Deutsche Sprecher: Arnold Maquis, Oliver Rohrbeck, Friedrich Schoenfelder, Agi Prandhoff, Erich Fiedler u. a.
Verleih: New KSM
Länge (je Folge): ca. 30 Minuten

Die DVD-Box von New KSM

Die 4-DVD-Box von New KSM enthält insgesamt 29 Episoden der Serie, die selbst wiederum aus zwei bis drei Erzählungen pro Episode bestehen. Die Serie liegt damit in de rauf 3000 Stück limitierten Box erstmals vollständig auf DVD vor. Außer den einzelnen Folgen enthalten die DVDs weiter keine Zusatzmaterialien, was angesichts der für das europäische Trickfilm-Fernsehen einflussreichen Arbeit der Macher bedauernswert ist. Die Bildqualität ist für die Verhältnisse (die Serie selbst ist handwerklich eher mittlerer Qualität) gut, der Ton – leider nur der deutschen Synchronton, ordentlich

Die Ausstattung der Box im Einzelnen:

Bild: 4:3
Ton: DD 2.0 (deutsch)
Extras: Zertifikat, 8-seitiges Booklet, Grisu-Ansteckbutton
Preis: 31,97 Euro

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