Spider

„… und das Vergessen kommt
aus der stummen Zerrissenheit
des Menschen.“
(M. Foucault)

Augenscheinlich lässt sich die Filmografie David Cronenbergs in zwei thematische Stränge dividieren. Da wären zunächst die „Matter over Mind“-Filme, die in der Sekundärliteratur oft als „Body Horror“ bezeichnet werden und zu denen zum Beispiel Shivers, Videodrome, The Fly und eXistenZ gehören. Diese Filme thematisieren den Kampf und Sieg des Fleisches über den Geist. Doch parallel drängen sich seit 1983 – seit Dead Zone – auch Beiträge in die Filmografie des Kanadiers, die genau die gegenteilige Denkrichtung aufweisen, und die sich besser mit „Mind over Matter“ paraphrasieren ließen. Nach Dead Zone, Dead Ringers, M. Butterfly und Crash stellt Spider nun die neueste Introspektion im Werk Cronenbergs dar, für welche die Kritik nur die hilflose Kategorie „Psychothriller“ anzubieten hat.

Dennis „Spider“ Cleg (Ralph Fiennes) ist ein introvertierter, ja eigentlich autistischer junger Mann, der nach einem Aufenthalt in der Psychiatire in seine Heimatstadt London zurückkehrt. Dort quartiert er sich in eine Pension (ein Übergangsheim) ein, die nicht minder den Eindruck einer Nervenheilanstalt erweckt: Sowohl seine Mitbewohner als auch die Herbergsmutter Mrs. Wilkinson (Lynn Redgrave / Miranda Richardson) verströmen Kälte und Wahnsinn. Sein Zimmer ist karg ausstaffiert und der Tagesablauf in der Pension streng geregelt. Dennis entzieht sich dem immer mehr, setzt seine Medikamente ab und begibt sich immer wieder auf Streifzüge zu den Stätten seiner Kindheit, die dem Zuschauer in Rückblenden gegenwärtig wird:

Dennis (Bradley Hall), der nach einer Anekdote von seiner Mutter (Miranda Richardson) liebevoll Spider genannt wurde, ist das Kind einer Proletarierfamilie. Der Vater Bill (Gabriel Byrne) verdingt sich tagsüber als Klempner und treibt sich nachts in den Pubs herum, während die Mutter den Haushalt und das Kind versorgt und dabei zumindest so tut, als kränke sie das Verhalten ihres Mannes nicht. Zuhause herrscht indes Schweigen und stille Aggression. Der Vater schlingt wortlos seine Mahlzeiten in sich hinein, um anschließend wieder ins Nachtleben aufzubrechen. Irgendwann lernt er im Pub die dralle und vulgäre Prostituierte Yvonne (Miranda Richardson) kennen, die ihm schon einmal während eines Arbeitseinsatzes über begegnet ist. Angetrunken verlassen beide das Lokal und beginnen unter einer Brücke eine Affäre, die schließlich zum vollständigen Zusammenbruch der Familie führt.

Als Bill irgendwann während eines Streits mit seiner Frau wutentbrannt die Wohnung verlässt und in den Pub geht, ist die Krise perfekt. Er schnappt sich Yvonne, geht mit ihr in eine Gartenkolonie, um dort die Nacht mit ihr zu verbringen. Dennis’ Mutter folgt ihm, ertappt ihn in flagranti und wird von ihrem Mann emotionslos mit einem Spaten erschlagen und unter dem Gemüsebeet verscharrt. Nun soll also Yvonne Spiders „neue Mutter“ sein, was ihm gar nicht passt. Als Yvonne ihm gegenüber beiläufig erwähnt, dass die Mutter von beiden umgebracht worden sei, glaubt der verstörte Junge, er sei das nächste Opfer und ersinnt einen Racheplan.

Wir erfahren diese Einzelheiten aus der Biografie Dennis Clegs durch eine gekonnt verschachtelte Ansammlung von Rückblenden. In all diesen Szenen ist der erwachsene Dennis wie eine Art Erzähler ebenfalls anwesend – er dokumentiert und kommentiert von niemandem beobachtet, was geschehen ist. Einzig sein früheres Ich nimmt in diesen Tagträumen manchmal Kontakt zu ihm auf. Durchbrochen werden diese Rückblenden immer wieder von den Tagesereignissen des erwachsenen Dennis. Der Wechsel aus der Vergangenheit in die Gegenwart ist dabei ebenso fließend. Und daher erschließt sich dem Zuschauer erst nach und nach, wie aus Spider der Mensch geworden ist, der er ist.

Die Szenen, welche Spider als Mann zeigen, verströmen allerdings eine noch weit unangenehmere irrealität als seine Ausflüge in die Vergangenheit. Sein Verhalten ist dabei das eines Autisten: etwa wenn er all seine zurück gewonnenen Erinnerungen mit einem kleinen Bleistift in ein Heft kritzelt, welches er paranoid versteckt und schließlich doch vernichtet. Oder die Tatsache, dass er kaum spricht und wenn, dann nur in unverständlich gemurmelten Halbsätzen. Und schließlich sein in zahlreichen Szenen undurchdringliches und soziophobisches Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen zeigen uns Spider als einen kranken Menschen.

Cronenberg bebildert seinen Helden behutsam und nähert sich dessen Persönlichkeit mit seiner Erzählung mimetisch an. Und deswegen scheint es auch gar nicht so unwahrscheinlich zu sein, dass die oben wiedergegebene Inhaltsangabe mehr die Bebilderung von Spiders Persönlichkeitsstörung als eine Dokumentation wirklicher Ereignisse darstellt. Etliche Details des Film stützen diese Vermutung: Spiders irrationaler Hass auf die Herbergsmutter, welche ihn fatal an seine eigene Mutter und an seine Stiefmutter erinnert oder die im Film ständig wiederkehrenden Spinnennetz-Strukturen, die die Bilder seiner Biografie nicht nur bestimmen, sondern geradezu einzufangen scheinen. All dies relativiert und erschwert den rationalen Zugang zur Erzählung des Films beträchtlich. Hinzu kommt, dass sich die Erzählung des Films selbst so langsam und kryptisch entwickelt, dass sich tatsächlich erst in den letzten Einstellungen so etwas wie Sinn einstellt.

Dennis Cleg ist ein naher Verwandter der Mantle-Zwillinge (Dead Ringer) und direkter Nachfahre John Smiths (Dead Zone) und Gallimards (M. Butterfly). Und trotzdem trifft die Qualifikation „Psychothriller“ oder „Psychodrama“weder auf Spider noch auf die anderen genannten Cronenbergfilmen ganz zu. Dazu zeigt sich die Erzählung des Films zu deutlich als narratives Prinzip. Denn wie schon zuvor in eXistenZ und Videodrome, führt auch Spider eine Form alternativer Realität ein, die sich dem Zuschauer nicht sofort als „Halluzination“ oder „Simulation“ zu erkennen gibt. Die Tatsache, dass Dennis als Kind und Erwachsener in ein und der selben Szene zu sehen sind und dort interagieren lässt sich nicht einfach mit dem Prinzip der Rückblende erklären. Denn in diesen Rückblenden generiert sich nicht allein unser Blick auf die filmische Vergangenheit, sondern eben auch auf Spiders Gegewart. Mit dem fortschreitenden Erzählprozess verändert sich so immer wieder die Bedingung der Erzählung selbst – sie wird autopoetisch.

Daher muss die anfänglich erwähnte Trennung des Oeuvres von David Cronenberg wohl zu Gunsten einer komplexeren Perspektive fallen gelassen werden: Die Psychosen der Protagonisten aus den „Mind over Matter“-Filmen haben zu konstruktivistischen Charakter für die Erzählung. Die vermeintlichen Gefühls- bzw. Gedankenwelten entpuppen sich bei Cronenberg immer auch als alternative Realität und eben nicht nur als Introspektionen des Wahnsinns. Für Cronenberg ist der Wahnsinn seit seinen frühen Kurzfilmen nie nur Geisteskrankheit, sondern stets auch Symptom für eine Begegnung mit der Realität – im Foucault’schen Sinne.

Spider stellt eine weitere Facette dieser Perspektive dar. Hier sind es keine Videodrome-Signale, Teleportationskammer, Biopods, Autounfälle oder Sexparasiten, die bewusstseinserweiternd auf die Protagonisten wirken. In Spider ist es die fragmentarisierte Biografie selbst, deren schreckliche Partikel das Bild der Gegenwart usurpieren. In den vorletzten Momenten des Films vertauschen sich die Gesichter seiner Mutter, Stiefmutter und der ihm verhassten Mrs. Wilkinson immer häufiger, während er mordbereit vor ihrem schlafenden Körper steht. Die vorher etablierte Logik der Erzählung gerät wieder aus den Fugen. Die Motive für den geplanten Mord an der Herbergsmutter werden immer unklarer und in der letzten Szene schließlich ist Spider schon wieder auf dem Weg in die geschlossene Anstalt. Und wir wissen, dass seine Vergangenheit ihn und die Erzählung nun wohl endgültig eingeholt hat.

Spider
(Can/UK, 2002)
Regie: David Cronenberg
Buch: Patrick McGrath
Kamera: Peter Suschitzky
Musik: Howard Shore
Darsteller: Ralph Fiennes, Bradley Hall,
Miranda Richardson, Gabriel Byrne uva.
Laufzeit: 91 Minuten.

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