Wie zwiespältig die dokumentarische Annäherung an kriminalistische Themen ist, zeigen nicht wenige Filme, die unter dem Banner der objektiven Berichterstattung segeln und sich ihrer Verwickeltheit und ihres Einflusses auf den Gegenstand gar nicht selbst bewusst sind. Er jüngst hat der deutsche Hochstaplerfilm „Mein anderes Leben“ gezeigt, wohin solch ein Vorgehen führt: undifferenzierte Glorifizierung des Gegenstandes und die Auf- bzw. Abgabe der souveränen Erzählposition an das Objekt der Erzählung. Der deutsche Autoenfilmer Peter Fleischmann vermeidet in seinem neuesten Werk „Mein Freund der Mörder“ nicht nur diesen Fehler, sondern liefert auch gleichzeitig eine Reflexion darüber, wie Film ein auf den ersten Blick unpolitisches Sujet durch radikale Subjektivierung in einen politischen Beitrag verwandeln kann.
Fleischmann hatte zu Beginn der 1970er Jahre bei seinen Dreharbeiten zu „Das Unheil“ (1971) in der Pfalz den gerade aus der Gefängnishaft entlassenen Bernhard Kimmel kennengelernt. Kimmel hatte in den 1960er Jahren mit seiner Bande zahlreiche Raubzüge veranstaltet und dabei Millionen erbeutet. Die Tatsache, dass die Kimmel-Bande die Polizei trickreich an der Nase herumführte und dass immer die Reichen Opfer der Diebstähle waren, hat den jungen Männern bald den Ruf von Helden eingebracht. Selbst als sie in einer Sylvesternach betrunken und ums sich ballernd den Wirt einer Waldhütte erschossen haben, wurde dies gemeinhin als „Bubenstreich“ bewertet und verziehen. Nachdem Kimmel seine zehnjährige Haft hierfür verbüßt hatte, blieb er – sich seines guten Rufes stets bewusst – nicht lange untätig: 1984 raubte er zusammen mit seiner Freundin eine Bank aus. Als er am Tatort überrascht wurde, kam es zum Feuergefecht, in dessen Verlauf ein Polizist getötet, ein anderer so verletzt wurde, dass er lebenslang an den Rollstuhl gefesselt war. Kimmel ging erneut ins Gefängnis – dieses Mal für Mord und lebenslänglich.
Fleischmann dreht während der Arbeiten an „Das Urteil“, in dem er Kimmel kurzerhand als technischen Berater und Nebendarsteller einsetzte, einen kleinen Dokumentarfilm des noch jungen Mannes – nicht wissend, dass aus dieser Zusammenarbeit eine mittlerweile 35 Jahre dauernde Freundschaft wurde. 1984 besucht Fleischmann Kimmel im Gefängnis und findet einen verbitterten, lebensmüden Menschen vor, der der festen Überzeugung ist, Opfer eines Fehlurteils zu sein, das ihn bis an sein Lebensende ins Gefängnis gebracht hat. Doch Kimmel wird 2003 aus der Haft entlassen. Mittlerweile künstlerisch aktiv und mit Kontakt zu kulturellen Größen wie Martin Walser, schafft er es, sich eine neue Existenz – jedoch in Einsamkeit – aufzubauen. Fleischmann gewinnt ihn erneut für einen Film, konfrontiert ihm mit dem bereits aufgenommenen Material und mit seiner Schuld.
Schon die erste Szene führt – wenn man es dem titelanführenden „Mein“ nicht bereits entnommen hat – vor Augen, welche Haltung der Autor hier zu seinem Gegenstand einnimt. Die radikal subjektive Perspektive Fleischmanns wird dann auch in der Folge zu keiner Zeit durch authentisierende Tricks unterminiert – vielmehr ist der Regisseur bemüht, gerade seine eigene Verwicklung in die Biografie Kimmes immer wieder klar zu formulieren und den Verlauf der eigenen (Künstler)Biografie in Abhängigkeit zur Bekanntschaft mit Kimmel zu stellen. Dass diese Engführung zu einigen Extremsituationen führt, bleibt angesichts des fatalen Lebens(ver)laufs Kimmels kaum verwunderlich. Immer wieder fordert Fleischmann diesen auf, sich seiner Haltung zur eigenen Vergangenheit zu stellen – fährt mit ihm zu den Originalschauplätzen seiner Taten. Den Höhepunkt findet diese Herausforderung bei einem abendlichen Ausflug zu genau jener Bank, die Kimmel 1984 überfallen hat und wo er das Leben eines Menschen beendetet. Immer wieder deklinieren beide die Ereignisse der Vergangenheit in ihrem Geiste durch, überlegen, warum die Bezeichnung „Mord“ falsch (oder eben richtig) ist und fordern den Zuschauer zum Verständnis eines „geläuterten“ (Kimmel) Menschen auf – ohne jedoch in Beschönigungsrhetorik zu verfallen (wenngleich Kimmel auch immer wieder fordert, radikale Begriffe wie „Mord“ oder „Handgranate“ nicht zu verwenden).
Fleischmann konstatiert, dass in seiner Beziehung zu Kimmel und in seinen Filmen über Kimmel die „Barriere zwischen Beobachter und Zielperson verschwunden“ (Fleischmann) sei. Dies ist jedoch nicht nur ein Merkmal, das für seinen, sondern das gleichsam für alle Dokumentarfilme gilt. Die Differenz liegt nur im Grad der Selbstbewusstheit dieses Aspektes. Fleischmanns Beitrag ist dabei in zweifacher Hinsicht besonders verführerisch: Einerseits in der unumwunden freundschaftlichen Darstellung Kimmels, andererseits in genau dieser Subjektivposition, die es zulässt, das Dargestellte als alleinige Perspektive des Autors auszuweisen. Auf diese Verführung hereinzufallen, würde allerdings dazu führen, dass allgemeine, politische Sujet des Films aus den Augen zu führen: Fleischmann stellt deutlich heraus, dass sich die Figur Kimmel und die mit ihm konfrontierte Gesellschaft stets aufeinander bezogen haben: Nur durch die fast ehrerbietende Anbiederung in Form des romantisierten „edler Räuber“-Bildes konnte aus dem Ganoven Kimmel ein Held werden. Diese Verehrung, macht Fleischmann klar, war nur denkbar vor dem Hintergrund des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit und der „Selbstvergessenheit“ der jüngsten Vergangenheit. Dass der Fall Kimmel bei seiner Aufdeckung nebenher dazu geführt hat, zwei wichtigen Naziverbrechern, die in der Pfälzer Polizei Unterschlupf gefunden hatten, aufzudecken, belebt diese politische Verwicklung von Fall- und Nachkriegsgeschichte deutlich.
Mein Freund der Mörder
(Deutschland 2006)
Regie, Buch & Schnitt: Peter Fleischmann; Musik: Brian Eno; Kamera: Dib Lufti
Mit: Bernhard Kimmel, Peter Fleischmann
Länge: 90 Minuten
Verleih: offen (ARTE)