Tyger! Tyger!

Tyger! Tyger! burning bright
In the forests of the night
What immortal hand or eye
Could frame thy fearful symmetry?
(William Blake)

Im Serienkillerfilm der letzten zehn Jahre scheinen sich Mythen und Bilder vom Wahnsinn(igen) immer weiter zu vermischen. Gerade nach dem Erscheinen von Silence of the Lambs (USA 1992) haben sich die Filme, die vormals einer rein seriellen Produktionsökonomie (Film -> Einspielergebnis -> Fortsetzung -> Einspielergebnis -> …) verpflichtet schienen und damit immer nur das gleiche Publikum bedienten, einer anderen, breiteren Zuschauerschaft geöffnet. Dies erreichten sie zum einen dadurch, dass ihre Erzählungen an Komplexität gewannen, aber im wesentlichen doch dadurch, dass sie zusehends das Opfer aus dem (mitleidenden) Blick des Zuschauers rückten und stattdessen den Killer zur Hauptfigur erhoben. Doktor Hannibal Lecter aus The Silence of the Lambs war vielleicht die erste dieser Figuren, die durch ihren »Wahnsinn«, den die Gesellschaft (und die Filmhandlung) ihr andichteten, so etwas wie klammheimliche Bewunderung auf sich zog. Er trat mit einer anderen Qualität als zum Beispiel noch Michael Myers aus Carpenters Halloween (USA 1978) in Szene: nicht mehr als stumme, tumbe Serienmörder, sondern als ein Ästheten des Tötens.

Mit Red Dragon (USA 2002) ist es nun möglich, diese »Theorie soziopathischen Wandels« am Beispiel nachzuzeichnen: Regisseur Brett Ratner erzählt die erste Episode der Thomas Harris-Trilogie um Hanniabal Lecter in einer neuen Fassung, wohl augenscheinlich, um den Hype um die Figur des kannibalischen Serienmörders auszubeuten. Und so wundert es auch nur wenig, dass sich die wenigsten Kritiker auf Red Dragon als originäres Erzählwerk konzentrieren und ihn stattdessen in Beziehung zur »ersten Version« Man Hunter (USA 1986) von Michael Mann setzen. Und in nicht wenigen ihrer Besprechungen schneidet Red Dragon im Vergleich zum »Vor-Bild« schlechter ab, weil ihm schnödes Epigonentum zur Gewinnmaximierung unterstellt wird.

Die Erzählung des Filmes scheint – wollte man diesen Vergleich wirklich ernsthaft anstellen – jedoch eine erweiterte Version von Harris’ früherer Adaption: Im Prolog wird geschildert, wie der intellektuelle Menschenfresser und Kulturmäzen Hannibal Lecter (Anthony Hopkins) vom FBI-Profiler Will Graham (Edward Norton) durch Zufall entlarvt und dingfest gemacht wird. Graham trägt von seinem Fang jedoch schwerwiegende physische und psychische Verletzungen davon, die ihn aus dem Polizeibetrieb in die Frührente und Arme seiner Kleinfamilie treiben. Doch schon kurze Zeit später benötigt das FBI Grahams Hilfe: Ein Serienmörder (Ralph Fiennes), der bereits zwei komplette Familien ausgelöscht hat, gibt der Polizei Rätsel auf. Niemand vermag die schon beinahe mythisch inszenierten nächtliche Morde zu deuten: Die Familienmütter müssen dabei zusehen, wie ihre Familien mit Spiegelscherben tranchiert werden. Der Mörder treibt bei diesen Taten jedem Familienmitglied kleine Spiegelfragmente in die Augen und tötet zum Abschluss die Frauen. Das psychotische/mythische Muster, das er seinen Taten zugrunde liegt, will jedoch auch Graham nicht vollends einleuchten und so besucht dieser seine alte Nemesis Dr. Hannibal Lecter im Hochsicherheitstrakt eines Irrenhauses, um dessen psychologischen Spürsinn auf den Fall anzusetzen. Dass dieser seine Mitarbeit dabei allerdings an verschiedene Bedingungen knüpft und darüber hinaus seine psychoanalytischen Spielchen mit Graham treibt, ist als modus operandi bereits aus Das Schweigen der Lämmer bekannt. In Red Dragon geht Lecter jedoch so weit, den Serienmörder, der aufgrund seiner bei den Opfern gefundenen interessanten Gebisssignatur liebevoll »Die Zahnfee« genannt wird, auf Graham aufmerksam zu machen und ihn sogar auf dessen Familie anzusetzen. Und so verkehren sich die Rollen von Jäger und Gejagtem.

Die Identität der »Zahnfee«, mit bürgerlichem Figurennamen Francis Dolarhyde genannt, wird – weil es sich bei Red Dragon um keinen Whodunnit-Thriller handelt – schon bald als Person eingeführt. Mit einigen wenigen Rückblenden wird seine Biografie präsentiert: Als Junge lebt Francis bei der Großmutter, die ihn verhöhnt und ihm ständig mit Kastration droht. Der Junge, der eine operierte Lippen-Kiefer-Gaumenspalten hat und deswegen typisch nasal spricht, verliert sich immer mehr in sich selbst, hält sich schließlich für ein Monstrum. Erst als er später mit den Werken des visionären Dichters und Malers William Blake Bekanntschaft macht, fällt ihm angesichts dessen Bild „Roter Drache“ auf: „Ich bin ja ein Gott“, den es nach Opfern und Selbstbespiegelung verlangt. Diese Chiffre ist es also, die es für Graham zu lösen gilt. Doch die Zeit wird knapp: Der nächste Familienmord passiert pünktlich zum Vollmond, die eigene Familie gilt es zu schützen und darüber hinaus Lecters verklausulierte Hinweise zu enträtseln.

Doch Francis wird – wie oben angedeutet – neben seiner Eigenschaft als Mörder auch in seinen emotionalen und privaten Zusammenhängen vorgestellt. Und das Unterscheidet Red Dragon am allermeisten von anderen Genre-Beiträgen: Die Charakterisierung wird nämlich keineswegs auf ein »Täterprofil« reduziert, sondern versucht, dem Zuschauer in die Gedanken- und Gefühlswelt des Killers einzuführen. So entwickelt dieser sogar eine emotionale Beziehung zu der blinden Mitangestellten seiner Firma Reba McClane (Emily Watson). Sie gewinnt das Vertrauen des Schüchternen Fancis und vermittelt ihm, dass sie ihn keineswegs für entstellt hält. Als Gegenleistung für ihre Zuneigung, die in einer Liebesnacht der beiden kulminiert, bringt Francis die Blinde nicht nur nicht um, nein: Er entwickelt sogar echte Liebe zu ihr. Einer der Höhepunkte der Charakterisierung dieser Beziehung ist ein gemeinsamer Besuch der beiden im Zoo, wo die seit ihrer Jugend erblindete behutsam an einen narkotisierten Tiger herangeführt wird und diesen voller Zärtlichkeit und Faszination streichelt. Francis hat ihr damit einen sehnlichen Wunsch erfüllt und um so enttäuschter ist er, als er feststellt, dass Emily ihn mit einem Arbeitskollegen zu betrügen scheint. Der durch diesen Verdacht in Rage gebrachte Serienmörder schreitet darauf hin zur Tat.

Etliche dieser Motive sind in Anspielungen auch schon in Michael Manns Adaption vorhanden, doch erlaubte der Low-Budget-Streifen damals wohl kaum, derartig ins Detail zu gehen und sich so viel Zeit für die Zeichnung der Figuren zu nehmen. Erst durch die mit Das Schweigen der Lämmer initiierte Heroisierung des Serienmörders und damit die Breitenwirksamkeit des Stoffes dürften ausreichend Argumente für eine derart detailverliebte Produktion vorgelegen haben. Doch wer hier nur auf ökonomisches Kalkül (durch die Ausbeutung des Kultes um Hannibal Lecter) tipp, liegt falsch. Hannibal bekommt nur wenige Szenen des Filmes. Vornehmlich konzentriert sich der Streifen nach dem ersten Drittel auf die Figur der »Zahnfee«. Diese steht in beständigem Kontakt zu den Ermittlungen, sammelt akribisch Informationen und erweist sich über seine Affinität zu William Blake als zwar psychotischer, aber dennoch radikaler Kunstliebhaber (der als finalen Akt der Bewunderung das Blake-Bild vom Roten Drachen, das als Tätowierung seinen Rücken ziert, stiehlt und aufisst).

Der Plot von Red Dragon ist von zahlreichen anekdotischen Handlungen durchsetzt, die allesamt zur empathischen Einführung in die Handlung und die Motivation der Figuren beitragen. Der fast vollständige Verzicht auf Splatterorgien, wie sie vor allem noch den Vorgängerfilm Hannibal (2000) kennzeichneten, lässt Red Dragon so zu einem hervorragend inszenierten Thriller werden. Erstaunlich dabei, wie viel Feingefühl Regisseur Ratner dabei an den Tag legt (angesichts der Sujets seiner Rush Hour-Filme).

Mit Sicherheit ist Red Dragon ein weiteres Puzzlestück zu Mystifizierung des Serienkillers im Film – vor allem Hannibal Lecters, der einmal mehr als weltverachtender Intellektueller Frischfleischliebhaber gezeichnet wird. Aber darüber hinaus führt der Film seinen Plot zurück in den Schoß des Thriller-Kinos, dessen Erzählstrukturen er meisterhaft variiert.

Red Dragon
(USA 2002)
Regie: Brett Rattner
Kamera: Dante Spinotti, Musik: Danny Elfman
Darst.: Edward Norton, Ralph Fiennes, Anthony Perkins,
Harvey Keitel, Emily Watson uva.
124 Minuten

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