One more time

Gute Pop-Platten erzählen eine Geschichte. Bestenfalls erzählen sie diese sogar nicht im begrifflichen Sinne, lassen vielmehr den geneigten Zuhörer vor dem geistigen Auge eine solche abstrahieren. Sie nehmen einen bei der Hand, verdichten die eigene emotionale Welt zu einem Traumuniversum, das – allein durchs Auflegen der Platte – beliebig abrufbar, verfügbar scheint. Diese Affinität zum Traum, dieses Glücksversprechen macht die große Anziehungskraft des Pop aus: Pop ist melancholische Sehnsucht nach der anderen, der besseren Welt. „Nieder mit den Umständen“, singt man in Hamburg. Umso ernüchternder der Moment, wenn die Plattennadel sich vom Vinyl hebt, der Laser des CD-Players das letzte Bit ausgelesen hat. Pop ist Illusion, scheitert letztendlich an den „Grenzen unserer Physik“ (wie wenig später Kante sangen).

Interstella 5555 ist das Produkt wie aber auch die ästhetisch manifeste Umsetzung eines solchen Poptraums: Eine kohärente Verschmelzung, aber auch Forterzählung der Musikvideos von Daft Punk zu „One More Time“, „Aerodynamic“, „Digital Love“ und „Harder, Better, Faster, Stronger“. Die nunmehr miteinander verbundenen und um wesentliche Storyelemente ergänzten Kurzfilme erzählen in einem retro-futuristisch angehauchten Ambiente die Geschichte der Band „Crescendolls“ in einem parallelen Universum, das mit unserem nur durch eine zweidimensionale, durchs All gleitende silbrige Scheibe zu erreichen ist. Dort, in diesem buchstäblichen Popuniversum ist die Musik bestimmender Faktor des Lebens, wie uns in der Exposition mit nur wenigen Einstellungen gezeigt wird: Ein Konzert unserer Band scheint das gesellschaftliche Ereignis! Freudig hypnotisiert blickt man allenorten auf Großbildübertragungsschirme, selbst die exekutiven Kräfte dieser Pop-Gesellschaft träumen, mit fatalen Folgen, zu den süßlichen Klängen vor sich hin: Eine Invasion bleibt so im Anfangsstadium unbemerkt und ist später nicht mehr abzuwenden. Ziel des Angriffs sind die Musiker selbst, die betäubt und arglistig in unsere Welt entführt werden, um dort von einem skrupellosen „Mad Scientist Manager“, ihrer Identität beraubt, als willenlose Sklaven seiner Machenschaften zur berühmtesten Band unserer Erde gemacht zu werden. Ein melancholischer Held macht sich indes aus der ursprünglichen Welt der Entführungsopfer auf, die Popidole zurückzuholen, sie aus den Klauen der gnadenlosen Welt des Kommerzes und der Ausbeutung von Kunst und Kultur zurück in den sicheren Hafen reinster Popwelten zurückzuholen.

Dabei wird kein einziges Wort gesprochen, die Diegese verweigert sich, mit sehr wenigen, pointierten Ausnahmen, den Geräuschen des Bildkaders. Einzig und allein die farbenfrohen Bilder und der nicht minder in Retrosoundwelten schwelgende Soundtrack von Daft Punk – in der Tat wird das gesamte Discovery-Album durchgespielt – vermitteln die Implikationen der Geschichte. Eigentlich ein Stummfilm also, der hier kunterbunt im Pop-Sci-Fi-Look der 70er Jahre – unter anderem ruft das Ambiente auch Erinnerungen an die aufwändige Covergestaltung des „Out of the Blue“-Albums des Electric Light Orchestra wach – präsentiert wird.

Der „Old School“-Look der Animationen mit seinen stellenweise arg kantigen Bewegungsabläufen von Design-Altmeister Leiji Matsumoto sorgt zu Beginn, in Verbindung mit dem recht eigenen Konzept, für Irritation und Skepsis, vielleicht auch für etwas unsichere Heiterkeit. Lässt man sich aber von den knalligen Bildern entführen, fortreiben, lässt man sich einfach, analog zu unseren Helden, durch die Weiten des Popuniversums treiben, entwickelt Interstella 5555 einen ganz eigenen Flair, der Assoziationen zu längst im Unterbewusstsein vergrabenen Kindheitserinnerungen an Captain Future (dem der Held aus dem Paralleluniversum zudem ganz frappierend ähnelt) weckt. So ist dieser Anime letztendlich mehr als nur ein normaler Erzählfilm, sondern darüber hinaus ein Kinoexperiment, das den dunklen Kinosaal einmal mehr als „Traummaschine“ konnotiert. Ein im besten Sinne des Wortes meditativer, wenn nicht gar halluzinogener Film durch Retro-Popwelten, auf den man sich gewiss einlassen können muss. Ist dies möglich, belohnt Interstella 5555 mit einem entspannten Kinoerlebnis jenseits des herrschenden Betriebs.


Interstella 5555 – The 5tory of the 5ecret 5tar 5ystem
(Japan/Frankreich 2003)
Regie: Kazuhisa Takenouchi
Buch:Thomas Bangalter, Guy-Manuel De Homem-Christo, Cédric Hervet
Design: Leiji Matsumoto; Musik: Daft Punk
Darsteller: –
Verleih: Rapid Eye Movies, Länge: 62 Minuten

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