Old Europe

Die simple Grundidee an sich ist nun wirklich reizvoll: „Drehe einen Film für 99 Euro!“ Das verspricht Ideenreichtum, Mut zur Improvisation, neue Wege, die beschritten werden wollen, ja, vielleicht sogar ganz neue Perspektiven des Filmeschaffens an sich. Die rigide finanzielle Beschränkung kann ohne weiteres auch als Befreiung von ökonomischem Druck umgedeutet werden, als Befreiung auch von althergebrachter Form und Konvention. Schon Truffaut kennzeichnete den Film der Zukunft notwendig als „Akt der Liebe“ und führte, unter anderem, die Befreiung der Filmproduktion von, auch aufgrund legislativer Einschnitte, unnötig hochtrabenden Kalkulationen, das kostengünstige Filmemachen also, als eine Voraussetzung hierfür an. In EUROPE – 99 EURO-FILMS 2 findet das Konzept nun, geboren als (wenn auch entliehene) Idee auf dem Filmfestival Oldenburg, filmische Premiere dann etwas später auf der Berlinale 2002, seine Fortsetzung.

Stand im ersten Teil der Kurzfilmcompilation noch das ökonomische Konzept als solches einend im Vordergrund, verfolgt man diesmal auch ein gewissermaßen ideologisches Projekt: Es geht um nichts geringeres als Europa! Das liegt gut im Trend, das ist am Puls der Zeit: Seien es nun Habermas’ und Derridas bislang eher klägliche, bisweilen auch recht befremdliche Versuche, eine europaweite Feuilletonbewegung zwecks Installation eines Gegenpols zu den USA ins Leben zu rufen, sei es die oft empörte, oft auch zynisch als positive Umdeutung verstandene Rede vom „alten Europa“ als Reaktion auf Rumsfelds Äußerungen im Vorfeld des Irakkrieges oder aber auch nur die üblichen Stammtischparolen, auf die man sich an allen Ecken einigen kann, die selbst auch unter europhilen Intellektuellen gerne in den Mund genommen werden. In der Tat lässt sich diese Zusammenstellung als eine Art filmisches Pendant zu den jüngsten Betätigungen Habermas’ verstehen (zumindest aber als eine wohl nicht zufällige Parallelbewegung): Insgesamt neun europäische Regisseur, meist eher jung, finden sich zusammen und geben ihr Mosaiksteinchen zum großen Identitätsfindungsprozess zum Besten, geeint durch eine Art Klammer- und Rahmenfilm, der ein junges Mädchen auf einer rätselhaften Reise durch Europa, immer an den Spielstätten der einzelnen Filme vorbei, zeigt.

Um die zu findende Identität wird dabei indes von Anfang an kein Hehl betrieben: Man fühlt sich dem großen europäischen Autorenkino, dem Kunstkino verpflichtet, versucht, dieses nicht selten nachgerade zu imitieren. Gleich im ersten Film, Aeterna von Tony Baillargeat, gibt es lange Einstellungen von Steinbüsten zu bewundern, einen melancholischen Mann, der morgens schon mit Tränen in den Augen das Bett verlässt, aus dem Off-Kommentar heraus in Caféhaus-Manier über Sinn und Zweck menschlichen Daseins philosophiert und den, wie man aus Filmfragmenten erst dechiffrieren muss, offenbar die Schuld am Tod seiner Geliebten tagträumend durchs moderne Paris treibt, bis er schließlich selbst, unachtsam wie ein Tageträumer eben ist, einen ganz ähnlichen Tod findet und der Kreis sich schließt. Wirklich Neues erzählt der Film nicht, er erzählt es auch nicht sonderlich originell, inspiriert oder gar, wie suggeriert werden soll, poetisch, nein, er klappert lediglich gängige Konstruktionselemente eines „künstlerischen Films“ ab, wie das eben auch ein beliebiger Film aus der Bewerbungsmappe für eine beliebige Filmhochschule zu machen pflegt, wenn es gilt, die Juroren von den eigenen Ambitionen mittels handfesten Manierismus zu überzeugen. Und so geht es, mit wenigen Ausnahmen, weiter: In Wien begegnet man in einem vergleichbaren Wust an Rückblenden Spuren alter Liebschaften wieder, in Amsterdam sucht man als absurde Figur nach einer ebensolchen Neuen, in Barcelona erzählt man in Schwarzweiß aus dem Off während der Vorbereitungen zum Badegang von der beschädigten Kindheit in einer Bolschewiki-Familie reinsten Wassers und sehnt sich nach dem „Wunschland“, eine Metapher, über dessen Referenten mittels langsam vom Hahn abperlende Wassertropfen und den kargen Interieurs, den entschlossenen Zügen der Erzählerin kein Zweifel gelassen wird. Produziert wird in all diesen Beispielen dabei, in erster Linie, Kunstfilmkitsch, der in seiner, man muss es stellenweise wirklich so nennen, manierierten Penetranz die Wartezeiten zwischen den gelungeneren Beiträgen oft zur harten Geduldsprobe werden lässt.

Denn diese gibt es – wie eigentlich ja im Zusammenhang mit dieser in letzter Zeit im Programmkinospektrum doch recht populären Form des Films unnötig zu erwähnen – durchaus. Weit interessanter etwa schon Benjamin Quabecks „Ich hab Musik dabei“, der mit einfachen Mitteln eine Autofahrt durchs nächtliche Ost-Berlin zum fast schon physisch unbequemen Psychothriller auf kleinstem Raum gestaltet – das riecht zwar nach einer Idee jugendlicher Filmnerds, die am Abend bei Bier über mögliche Filmsituationen fachsimpeln, besitzt aber auf der anderen Seite eben genau jenen frischen Elan, den das zugrunde liegende ökonomische Konzept so bitter nötig hat, an dem es den oft schwerfälligen Kunstversuchen davor und danach oft fehlt. Auch Richard Stanley, dem Regisseur von Dust Devil, gelingt es, mit Genreware weitgehend zu überzeugen und einen zwar ebenfalls künstlerisch arg verfremdeten, gleichsam fiebrig delirierenden Horrorkurzfilm aus den Londoner Katakomben zu präsentieren. Xawery Zulawskis ins moderne Warschau versetzte Interpretation einer Kurzgeschichte aus der Feder Philip K. Dicks übernimmt sich indes etwas zu sehr an narrativer Dichte, ist aber als unheimlich dynamisches Schnittexperiment zumindest formal den Umständen entsprechend wagemutig. Den wohl konsequentesten Kurzfilm – sowohl ökonomisch wie auch hinsichtlich der Spieldauer – kredenzt der Holländer Harry Kümel, der, als Hommage an Vampirfilme gedacht und obendrein, was sich vor allem in der Lust an satten Farben widerspiegelt, dem italienischen Kultregisseur Dario Argento gewidmet, die „Story of a metamorphosis“ nicht etwa kafkaesk, sondern recht augenzwinkernd, im wahrsten Sinne des Wortes, nachzeichnet.

Europa ist, das ließe sich vielleicht als Fazit so fixieren, anstrengend. Man pendelt – ein sogar recht stimmiges Bild der Filmproduktion des Kontinents – zwischen eitlem Autorenfilm und Genremodifikationen hin und her, reproduziert in erster Gattung aber doch eigentlich recht nur die altbekannten Versatzstücke aus narrativer Schwermut und ästhetischen Klischees. Überzeugend(er) wird EUROPE – 99 EURO-FILMS 2 hingegen meist in zweiter Gattung, dann, wenn es drum geht, wildes, einfallsreiches Kino unter extremen Bedingungen zu gestalten. Dass die oft zur Schau getragene grübelnde Schwerfälligkeit der anderen Kurzfilme, die für sich auch den weit größten Teil an Spielzeit beanspruchen, die Lust an Aufmerksamkeit, die man den kleinen Experimenten und Genre-Improvisationen doch eigentlich zugestehen müsste, arg belasten, ist dabei recht ärgerlich, wenn nicht sogar unlauterer Wettbewerb. Diese aufblitzenden Spitzen bleiben im Gesamten des Films selten, übernehmen obendrein, wenn wohl auch so nicht intendiert, die Funktion von kleinen Bonbons zwischendurch, Belohnung wie Anreiz dafür, sich mit der gediegenen Kunst, dem somit „Eigentlichen“ der Filmsammlung, auseinanderzusetzen. Alles beim Alten also, in Europa. Und man muss es betonen: leider.

Europe: 99 Euro-Films 2
Regie: Tony Baillargeat, Nacho Cerdà, Rolf Peter Kahl, Harry Kümel, Benjamin Quabeck, Richard Stanley, Ellen Ten Damme,
Stephan Wagner, Xawery Zulawski
Buch: dito.
Darsteller: Simon Licht, Vivian Bartsch, Oliver Bröcker, Choukri Gabteni, Michal Litwiniec, Heike Makatsch, Richard Stanley u.a.
Verleih: Neue Visionen/Independent Partners; Länge: 96 Minuten

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