Kurzrezensionen Juni 2009

  • Dietmar Kammerer: Bilder der Überwachung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008.
  • Michail Bachtin: Chronotopos. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008.
  • Andrea Claudia Hoffmann: Kopfkino. Wie Medien unsere Träume erfüllen. Konstanz: UVK 2008.
  • Claudia Schmitt: Der Held als Filmsehender. Filmerleben in der Gegenwartsliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007.
  • montage AV 17/2/2008: Immersion.
  • Philip Sarasin u. a. (Hgg.): Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopoligik des Unsichtbaren 1870-1920. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007.
  • Thomas Weber: Medialität als Grenzerfahrung. Bielefeld: transcript 2008.
  • Uwe Wirth (Hg.): Kulturwissenschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008.

Ich-sehe-Überwachung

Der Ästhetik wie sozialen Funktion von Videoüberwachung wird, so Dietmar Kammerer in seiner Dissertation, von Seiten der Kultur- und Medienwissenschaften zu wenig Interesse zuteil. Angesichts der Allgegenwärtigkeit von Überwachungskameras im Alltag und den damit verbundenen gesellschaftlichen Fragen wie Einflüssen auf andere Medienformate, ist dies ein Umstand, der beendet werden sollte. „Bilder der Überwachung“ tritt an, sich daher mit den Aspekten des Themas, die über die von Foucault entwickelten Panoptikums-Theorien in „Überwachen und Strafen“ hinausgehen, zu beschäftigen. Kammerer rollt hierzu die Geschichte des Überwachens neu auf und beginnt bei den Straßenlaternen des 17. Jahrhunderts als polizeiliches Ausleuchtungsmittel der Öffentlichkeit. Seine Untersuchung setzt ihren Akzent überhaupt auf das Phänomen der öffentlichen Sphäre, die, aufgrund ihres Gegensatzes zur Privatsphäre als nicht schützenswert und somit grundsätzlich überwachbar erscheint. Neben dem eher kultur- und raumwissenschaftlichen Ansatz setzt das Buch jedoch auch einen Akzent auf die mediale Vermittlung und Ästhetisierung von Überwachungsstrategien und wird gerade hier für Filmwissenschaftler interessant. In seinen Kapiteln zur Ikonografie der Videoüberwachung und ihrer Darstellung in der Popkultur durchleuchtet Kammerer die Kulturgeschichte ein zweites Mal – dieses mal unter der Perspektive von Überwachungsmotiven, die vom „Auge Gottes“ bis eben zum „Surveillance Entertainment“ in Film, Fernsehen und anderen Medien reichen.

Dietmar Kammerer: Bilder der Überwachung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, 382 Seiten (Taschenbuch), 13,00 Euro. Bei Amazon kaufen.

Raum-Zeit

Bachtins erzähltheoretischer Ansatz des Chronotopos zählt nicht nur in der Literaturwissenschaft zu den mittlerweile kanonischen Texten, sondern hat auch Eingang in die Filmwissenschaft gefunden (wie eine umfangreiche Monografie zur Chronotopen-Analyse im Werk Max Ophüls belegt). Die Analyse fiktionaler Entwürfe, vor allem die Charakterisierung von Figuren vor dem Hintergrund des Handlungsraums und der „Zeitformen“ haben sich als gewinnbringende strukturalistische Methode erwiesen. Bachtins „Formen der Zeit im Roman“ – so der deutsche Titel der Erstveröffentlichung von 1973 – ist seit geraumer Zeit vergriffen. Der Suhrkamp-Verlag hat das Buch nun unter dem Titel „Chronotopos“ in seiner stw-Reihe neu herausgebraucht und mit einem Nachwort versehen. Der Text gliedert sich damit auch in die Reihe verschiedener Veröffentlichungen des Verlages zur Raumtheorie ein und bietet so die Möglichkeit, es unter der Perspektive des spatial turn erneut und neu zu lesen.

Michail M. Bachtin: Chronotopos. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, 242 Seiten (Taschenbuch), 10,00 Euro. Bei Amazon bestellen.

Kopfkino

Die Analogie von Fiktion und Traum ist ein seit der Romantik immer wieder auftauchender Topos sowohl in Erzählungen selbst als auch in den Wissenschaften, die sich mit ihnen beschäftigen. Über eine bloße Behauptung von Homologie hinaus ist zu diesem Thema jedoch nur selten erhellendes geschrieben worden. Das zu ändern nimmt sich Andrea Claudia Hoffmann in ihrer Dissertation vor und wagt sogar noch mehr: Welchen Nutzen haben Fiktionen und Träume für das Leben des Menschen, wie funktioniert die vieler Orten konstatierte „Verarbeitung“ des Alltags im Traum und was trägt die Literatur zum Selbstverständnis des Lesers bei? Dass sich solche Fragen nicht allein von einer ästhetischen Warte aus beantworten lassen, scheint evident. Und so basiert die Autorin ihre Forschung einerseits auf psychologisch-psychoanalytischen und konstruktivistischen Annahmen, stellt andererseits aber auch eine empirische Erhebung an, in welcher sie Mediennutzer nach ihren Träumen und ihren Erfahrungen mit Medieninhalten fragt. Das Ergebnis der Studie ist erhellend, wenngleich globale Aussagen (wie sie etwa durch den Uses-and-Gratification-Ansatz bereits getätigt wurden) aufgrund der geringen empirischen Datenmenge problematisch bleiben. Und dennoch enthält der Band aus dem UVK-Verlag etliches Nützliche für weitergehende, auch ästhetisch-methodologische Diskussionen. (Als Beispiel nenne ich hier nur die Aufarbeitung der Frage, was das Erzählen eines Traumes noch mit dem Traum selbst zu tun hat und in welcher Weise sich mit derartigen ex-post-Strukturierungen aus konstruktivistischer Sicht umgehen lässt.)

Andrea Claudia Hoffmann: Kopfkino. Wie Medien unsere Träume erfüllen. Konstanz: UVK 2008, 437 Seiten (Taschenbuch), 39,00 Euro. Bei Amazon kaufen.

Nicht nur Kafka ging ins Kino

Welchen kutlturellen Stellenwert ein Medium hat, lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, wo und wie oft es intertextuell und intermedial aufgegriffen wird. Dem Kino wurde seit seiner Frühphase ein starker Einfluss auf alle anderen Künste – vor allem die Literatur – zugesagt. Dass sich dieser Einfluss nicht immer bloß strukturell etwa als „filmische Schreibweise“ niederschlägt, sondern Kino-Themen auch sehr fruchtbare Sujets für literarische Narrationen abgeben – und das bis heute -, das ist der Untersuchungsgegenstand von Claudia Schmitts bereits 2007 erschienener Dissertation „Der Held als Filmsehender“. Zunächst steckt sie ihre methodische Perspektive ab, indem sie die bisherigen Erscheinungsformen cineastischer Motive in der Literatur grob skizziert und danach die literarische (Re)Präsentation der Figuren des Zuschauers und des Filmschaffenden als Forschungsthemen aufstellt. Der empirische Teil ihrer Arbeit untersucht ausschließlich jüngere Werke: Urs Widmers „Der blaue Spion“ (1992), Andrei Makines „Au temps du fleuve Amour“ (1994), Gert Hofmanns „Der Kinoerzähler“ (1990), Joyce Carol Oates „Blonde“ (2000) und Paul Austers „The Book of Illusions“ (2002). Wie facettenreich die Darstellung des Films als literarischer Topos allein unter der Konzentrierung auf die medialen Kommunikationspartner ist, verdeutlicht die Arbeit sehr gut. Über den literaturwissenschaftlichen Wert einer solchen Untesuchung offenbart sie jedoch auch, wie sich mediale Diskurse in der Kultur reproduzieren und intermedial verzweigen.

Claudia Schmitt: Der Held als Filmsehender. Filmerleben in der Gegenwartsliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, 266 Seiten (Paperback), 39,80 Euro. Bei Amazon kaufen.

[Immersion]

Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift „montage AV“ aus dem Schüren-Verlag befasst sich mit einem Thema, das seinen Ursprung in der frühen Filmtheorie hatte, dort jedoch noch nicht so hieß: Immersion – also der Effekt den Zuschauer mental in das Medium „eintauchen“ zu lassen, so dass er mit seiner gesamten Aufmerksamkeit an der Narration teilhat. Eine der frühesten Beschreibungen dieses Vermögens stammt von Béla Balasz; in jüngster Vergangenheit sind Immersionstheorien jedoch vor allem im Zusammenhang mit Videospielen und Virtueller Realität diskutiert worden. Die zehn Texte der „montage AV“-Ausgabe holen das Thema dankenswerterweise und genau zum richtigen Zeitpunkt wieder in die filmtheoretische Debatte zurück – feiern doch gerade abermals 3D-Filme ihre Renaissance in den Kinos. Die Beiträge des etwa 190 Seiten starken Heftes wenden sich dem Thema entweder filmhistorisch (Robin Curtis, Raymond Fielding), medientheoretisch (Christiane Voss, Britta Neitzel, Werner Wirth und Matthias Hofer) oder in Einzelanalysen (Ute Holl, Ekki Huhatamo) zu. Dabei kommen Autorinnen und Autoren zu Wort, die – wie Christiane Voss – schon seit längerer Zeit zur filmischen Immersion arbeiten. Abseits vom Hauptthema des Heftes steht Joachim Paechs Nachruf auf den niederländischen Filmwissenschaftler Jan Marie Lambert Peters, der 2008 verstorben ist.

Montage AV, Ausgabe 17/2/2008, 184 Seiten (Taschenbuch), 12,80 Euro. Über den Verlag zu beziehen.

Ansteckende Wörter

Spätestens mit Susan Sontags Essays über die „Krankheit als Metapher“ ist die Bedeutung medizinischer und medizinhistorischer Erkenntnisse für das Selbstverständnis der Kultur zum Thema der Geisteswissenschaften geworden. Über „Krankheit als Erfindung“ hatte Dieter Lenzen 1993 kulturphilosophische Studien verfasst. Zu HIV und AIDS als kulturelles Phänomen ist von Brigitte Weingart 2002 eine Disseration über die Repräsentationsformen der Krankheit im kulturellen Diskurs erschienen. Im selben Verlag, bei Suhrkamp, haben nun vier Historiker und Medizinhistoriker eine Antologie über die „Biopolitik des Unsichtbaren“ am Beispiel der Bakteriologie veröffentlicht. 15 kanonische Texte, die zuvor teilweise recht verstreut und in kaum noch zu beziehenden Quellen erschienen waren, sind in die drei Rubriken „Eine neue Wissenschaft begründen“ (medizinhistorisch), „Bakteriologie und Politik“ (diskursanalytisch) und „Repräsentation des Anderen“ (alteritäts- und gendertheoretisch) gegliedert. Ausgangspunkt ist ein begriffsdefinitorischer Text über „Infektion“, der die ganze Bandbreite dieses Begriffs als Metapher verdeutlicht. Vom miss- und polyvalent verständlichen Wort „Infektion“ aus gliedert sich die gesamte kulturelle Vielfalt der Verwendungsweisen. Erstaunlich – oder vielleicht bezeichnend – ist, dass im immerhin 530 Seiten starken Taschenbuch ausschließlich Texte von Medizinern und Historikern versammelt sind. Nicht einmal der kanonische Vortrag Michel Foucaults zur Biopolitik, dessen Verwertungsrechte ja im selben Verlag liegen, hat Platz bkeommen. Trotz der doch mittlerweile reichhaltigen Auseinandersetzung auch anderer Disziplinen mit dem Thema scheint der (im neutralen Sinne) positivistische Zugang noch immer „virulent“ zu sein.

Philip Sarasin u. a. (Hgg.): Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870-1920. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. 529 Seiten (Taschenbuch), 17,00 Euro. Bei Amazon kaufen.

Wunschmedien

„Wunschmedien sind Medien, die es noch nicht gibt“, definiert Thomas Weber seinen Forschungsgegenstand in der im letzten Jahr erschienenen Monografie über „Medialtiät als Grenzerfahrung“. Wunschmedien tauchen ab den 1980er Jahren im Mainstream-Film auf und stellen Weber zufolge eine der wenigen wirklichen thematischen Innovationen des Kinos dieser Zeit dar. Zu den Filmen, über die er schreibt, gehören „Videodrome“, „Lost Highway“, „Matrix“, „Total Recall“, „Strange Days“, „Nirvana“ und einige andere. In ihnen tauchen Medien auf, die vorhandene Technologien mit futuristischen Möglichkeiten verbinden und so Gedeih und Verderb über die Protagonisten bringen. Webers Studie beginnt mit einem großen Abschnitt über die Frage, wie Medien in Medien – insbesondere im Film – dargestellt werden. Hier legt er den theoretischen Grundstein für die Auseinandersetzung mit dem Medium als Motiv und Metapher, zeigt, wie Medien funktionieren und „dysfunktionieren“. In den darauf  folgenden Abschnitten untersucht der seinen Filmkorpus daraufhin, welche Funktionen diese Wunschmedien für die Story der Filme und den Diskurs über sie einnehmen. Fragen von Intimität, Erinnerung und (nicht) zuletzt der Immersion stehen hier im Vordergrund. Aufgrund einer Verzögerung konnte das bereits 2005 fertiggestellte Manuskript erst drei Jahre später publiziert werden, so dass einige der neuesten Filme zum Thema nicht mehr behandelt werden. Angesichts dessen wirft Weber im Vorwort der Arbeit fragen auf, die eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema initiieren könnten. Der Band sei jedem Leser empfohlen, der sich dem Film von einer medienwissenschaftlichen Seite aus nähern möchte und nach geeigneten Theorie-Schnittstellen sucht (die Weber im Konzept der Mediologie Frank Hartmanns gefunden hat).

Thomas Weber: Medialität als Grenzerfahrung. Futuristische Medien im Kino der 80er und 90er Jahre. Bielefeld: transcript 2008. 372 Seiten (Taschenbuch), 33,80 Euro. Bei Amazon kaufen.

Plurale Theorie im Singular

Kulturwissenschaft als singuläre akademische Disziplin ist ebenso wenig praktikabel wie Naturwissenschaft. Im Plural bilden die Kulturwissenschaften ein Netzwerk aus Fach-Diskursen zwischen den unterschiedlichen Einzelwissenschaften, die Ende des 20. Jahrhunderts durch ihre allzu eindimensionale Methodik und Gegenstandsbegrenzung in die Sinnkrise geraten sind. Kulturwissenschaft im Singular ist als historisches Objekt hingegen ein naheliegendes Themengebiet, denn die Wegbereiter dieser Vernetzung haben ihre Überlegungen natürlich noch von einer singurlär-theoretischen Warte aus entwickelt. In seiner Anthologie „Kulturwissenschaft“ trägt Herausgeber Uwe Wirth genau diesem Umstand Rechnung. Denn die Wurzeln des disziplinenübergreifenden Denkens reichen zurück bis ins 19. Jahrhundert. In der ersten Abteilung des Bandes „Die ‚erste‘ Kulturwissenschaft“ trägt er Texte von Giambattista Vigo über Wilhelm Diltey bis Freud und Adorno zusammen, die das Phänomen Kultur en toto und nicht bloß in seinen Einzelaspekten zum Forschungsgegenstand erklären. In „Kontexte der Kulturwissenschaft“, dem zweiten Großkapitel, finden sich Aufsätze, die sich unter die zentralen Strömungen kulturwissenschaftlicher Forschung summieren lassen: Strukturalismus, Wissenschaftsgeschichte und Medientheorie. Und auch hier reichen die Denktraditionen bis Freuds „Wunderblock“-Text zurück. Im dritten Teil, „Aspekte der kulturwissenschaftlichen Wende“ trägt Wirth genau die Ansätze zusammen, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Nexus zwischen den Einzelwissenschaften etabliert haben: Cultural Studies (Hall), Ethnologie (Geertz), New Historicism (Greenblatt), Gendertheorie (Butler) und Systemtheorie (Luhmann). Die Textsammlung ist vor allem für Studienanfänger zu empfehlen, die gleich von Beginn ihres Studiums an über den sprichwörtlichen Tellerrand hinausblicken und die Interdisziplinarität theoriehistorisch fundieren wollen. Auf welche Weise die Einzelbeiträge sich in ein solches Projekt integrieren lassen, stellt der Herausgeber in einer umfangreichen „Vorüberlegung“ klar.

Uwe Wirth (Hg.): Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008. 559 Seiten (Taschenbuch), 18,00 Euro. Bei Amazon kaufen.

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.