Big Brother is killing you

Mit „Big Brother“ hat das Fernsehen dem Zuschauer endgültig seine bis dahin vermeintlich moralisch freie Position genommen. Die „Doku-Soap“ existiert nur, weil der Zuschauer sie sehen will und das, was er sehen will, wird auch gezeigt – ökonomisches Prinzip. Letzteres ist gerade in den letzten deutschen Staffeln durch die eigene Kamerawahl im Internet möglich geworden. Die vorgegebene „Dramaturgie“ der TV-Übertragung lässt der Surfer hinter sich und schaut über die Webcam dort hin, wo er es will.

In My little Eye wird dieses Prinzip zur Spielregel. Fünf junge Leute lassen sich für ein halbes Jahr in ein Haus einsperren, das mit Webcams gespickt ist. In Abweichung von der Big Brother-Regel gewinnen alle zusammen eine Million Dollar, wenn sie als Gruppe – ohne Verluste – am Ende der sechs Monate das Gelände verlassen. Das Spiel setzt also ganz bewusst auf die Spaltung der Gruppe und schon bald geschehen Dinge in der Gemeinschaft, die diese Spaltung herbeiführen sollen: ein gefälschter (?) Brief, in dem einem der Mitspieler vom Tod seines Großvaters berichtet wird, Geräusche und unheimliche Vorgänge, die Nachts alle aus dem Schlaf reißen, die Visualisierung der Ängste einzelner Gruppenmitglieder usw. Das, was von allen mit mehr oder weniger Unbehagen als Versuch der Spielleitung, die Grupp zu spalten, interpretiert wird, schlägt jedoch schon bald in den Terror um, als ein Skifahrer das Haus erreicht und den Bewohnern mitteilt, dass er sie gar nicht kennt – wo doch alle davon ausgegangen sind, dass „ihre Show“ ein nationales Medienereignis darstellt. Und als dieser Skifahrer dann auch noch mit einer der Frauen aus der Gruppe intim wird, bricht der labile Zusammenhalt entgültig auseinander und weicht Eifersucht, Misstrauen und Angst.

My little Eye birgt als Thriller eine Menge Plot-Twists, die an dieser Stelle zu verraten, dem Film zwar nicht seine Spannung nehmen würde, jedoch einige „Überraschungen“ verderben könnte. Und diese Überraschungen präsentiert Regisseur Marc Evans als handfeste, somatische Schocks. Bei wohl wenigen Thrillern der letzten Jahre durfte man sich so regelmäßig erschrecken wie bei My little Eye. Hinzu kommt die konsequente visuelle Umsetzung der Erzählung durch die Webcams. Zu keiner Zeit hat man als Zuschauer das Gefühl einer neutralen Position. Selbst in den entlegensten Winkeln des Hauses spähen die Kameras ihre Objekte aus, zoomen an sie heran und teilen uns ihre Geheimnisse mit. In der Dunkelheit wird infrarotes Licht eingesetzt und von speziellen Kameras gefilmt, was die Szenen in gespenstisch grünes Licht verleiht und die Pupillen der „Darsteller“ hell erleuchtet. dazu kommt eine Tonspur, die beständig durch Geräusche elektronischer Übertragung, Kameramotor-Geräusche und einen genialen Soundtrack aus elektronischem Ambient besteht. An gruseliger Inszenierung mangelt es My little Eye wirklich nicht!

Nun könnte die Erzählung – die im ersten Moment an Halloween: Resurrection erinnern mag – dazu verleiten, My little Eye für ein technisches Gruselmär mit ein wenig gruppendynamischen Sprengpotenzial zu halten. Doch damit gibt sich der Film nicht zufrieden. Gerade durch den Modus der Inszenierung zieht er den Betrachter immer wieder in seine Erzählung hinein, was sich zum Ende hin deutlich als medienkritischer Vorwurf lesen lässt. Die Handlung entwickelt sich unaufhaltsam von einer „Doku-Soap“-Erzählung zu einer Studie über permanente Überwachung bis hin zu einer Verschwörungstheorie. Und an all dem hat der Zuschauer teil, weil er es ist, der den (un)heimlichen Blick durch die Kamera wagt.

My little Eye ist eine gänzlich neue Variante des Hauntend House-Themas. Das Motiv wird auf die Höhe der Zeit katapulitert und die Geister, die die Hausbewohner verfolgen, sind nun nicht mehr die vergangener Zeiten, sondern die der Allgegenwärtigkeit des Blicks. Dieser Blick ist es, der aus dem Zusammenleben der Hausbewohner einen Thriller macht, er ist es, der will, dass „endlich einmal etwas geschieht“ und er ist es auch, der das Ende der Erzählung bestimmt. Der Blick diktiert die dunkle Vorahnung, könnte man meinen. Die Interaktivität in My little Eye ist eine simulierte, aber diesen Zustand weiß der Film gekonnt zu kaschieren, indem er die (schlimmsten) Erwartungen projiziert und einen Zuschauer hinterlässt, der sich fragt, welche moralische Position er eigentlich einnimmt, wenn er sich beim Zuschauen entspannt zurücklehnt.

Unsichtbare Augen
(My little Eye, GB, USA, Frankreich, Kanada 2002)
Regie. Marc Evans; Buch: David Hilton, James Watkins; Kamera: Hubert Taczanowski; Musik: Bias
Darsteller: Sean Cw Johnson, Jennifer Sky, Kris Lemche, Stephen O’Reilly, Laura Regan, Bradley Cooper, Nick Mennell
Verleih: UIP
Länge: 95 Minuten

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