Normalität und Brüchigkeit

Eine der spannendsten Fragen (nicht nur) des Films ist die, wie Menschen aus ihrer Normalität durch ein existentielles Ereignis herausgerissen und zu unerwarteten Handlungen verleitet werden. Todd Field ging einer solchen Frage nach.

In einer Kleinstadt in New England lebt Frank Fowler (Nick Stahl) mit seinen Eltern, dem Arzt Matt Fowler (Tom Wilkinson) und Ruth (Sissy Spacek), die sich gerade damit beschäftigt, einen Schulchor auf den Labor-Day vorzubereiten. Frank hat College-Ferien, verdient ein bisschen Geld beim Hummerfang. Doch seine Gedanken kreisen im Moment nicht um seine berufliche Zukunft. Er ist verliebt in die um einige Jahre ältere Natalie Strout (Marisa Tomei), die zwei kleine Söhne hat und in Scheidung von ihrem Mann Richard (William Mapother) lebt. Matt und Ruth mögen Natalie, doch insbesondere Ruth kommt mit der Beziehung ihres Sohnes zu Natalie nicht zurecht. Hinzu kommt, dass Richard, der zur Gewalttätigkeit neigt, nicht akzeptiert, dass Natalie sich von ihm getrennt hat, und schon gar nicht, dass sie eine Beziehung zu Frank hat.

Richard taucht uneingeladen auf einer Geburtstagsparty für einen der Söhne der Strouts auf, sitzt plötzlich im Haus von Natalie, will sie zwingen, die Beziehung zu ihm wieder aufzunehmen. Doch Richard geht noch weiter und verprügelt Frank. Die Fowlers überlegen, ob die Polizei zu informieren, doch Frank will Richard nicht anzeigen, um den Konflikt nicht eskalieren zu lassen. Als Richard das Mobiliar in der Wohnung Natalies zerstört, bekommt sie es mit der Angst zu tun. Frank ist entschlossen, die Polizei jetzt doch zu informieren. Doch dazu kommt es nicht mehr. Richard erscheint an der Haustür, will sich angeblich entschuldigen. Während sich Natalie und die Kinder im Kinderzimmer aufhalten, kommt es zur Katastrophe. Richard hat eine Waffe bei sich. Beim Streit mit Frank erschießt Richard ihn.

Für die Fowlers bricht eine Welt zusammen. Richard kommt zudem auf Kaution frei, da es keine unmittelbaren Zeugen für den Vorfall gibt. Natalie hatte den Schuss gehört, aber nicht gesehen, wie es passiert war. Die Verteidigung und Richard behaupten, es sei ein Unfall gewesen. Für Ruth und Matt ist es unverständlich, dass der Mörder ihres Sohnes frei herumläuft. Zudem begegnet Ruth immer wieder Richard – eine für sie unerträgliche Situation. Verzweifelt versucht Matt, Anhaltspunkte dafür zu finden, dass Richard vorsätzlich seinen Sohn getötet hat. Die Trauer um ihren Sohn macht Ruth und Matt hilflos. Es kommt zu Auseinandersetzungen zwischen beiden. Matt kann es nicht mehr ertragen, dass Ruth immer mehr in ihrer Trauer, ihrer Wut und ihrem Hass, auch auf Natalie, die sie für mitschuldig hält, versinkt und trifft eine Entscheidung …

Todd Field schildert die Atmosphäre der Lebenswelt in einer amerikanischen Kleinstadt, deren Einwohner in Geborgenheit, Glück, Friedfertigkeit und Solidarität leben. Nichts scheint diese Welt gefährden zu können. Die Probleme des Alltags sind belanglos, größere Konflikte scheint es nicht zu geben. Die Beziehung von Frank zu Natalie, mit der vor allem Ruth nicht zurecht kommt, ist von tiefer Zuneigung geprägt; Frank liebt ihre Söhne und die mögen Frank. Selbst der Altersunterschied zwischen beiden spielt letztlich keine Rolle. Die Versuche Ruths, die beiden zu trennen, scheitern am Widerstand Franks und auch Matts, der seinen Sohn gewähren lässt. Auch dieser Konflikt scheint der Stabilität der Beziehungsnetze nichts anhaben zu können. Irgendwann wird sich Ruth damit abfinden, dass ihr Sohn eine (noch) verheiratete Frau liebt; irgendwann wird Richard Ruhe geben, und sei es mit Hilfe der Polizei.

Der Mord an Frank scheint zunächst nichts weiter zu sein als eine massive Störung der lebensweltlichen Stabilität. Doch er ist mehr. Er lässt Konflikte aufscheinen, die vor der Tat vorhanden, aber nicht ausgesprochen waren. Beeindruckend ist in dieser Hinsicht vor allem eine Auseinandersetzung zwischen Matt und Ruth, in der Ruth ihrem Mann vorwirft, er habe sie nicht nur in ihrer Trauer allein gelassen, sondern trage Mitschuld am Tod Franks, weil er seinen Sohn habe immer gewähren lassen, mit Frank nie über die Beziehung zu Natalie gesprochen habe. Matt kontert: Ruth wäre nie mit dem zufrieden gewesen, was Frank betrifft. Schon als Frank klein gewesen sei, habe sie ihn ständig in eine bestimmte Richtung erziehen wollen – ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse des Kindes.

Field zeichnet seine Figuren in einer an Intensität kaum zu überbietenden Weise. Aber er zeichnet ebenso deutlich ein sympathisches, Wärme und Geborgenheit ausstrahlendes Milieu, das nicht fähig zu sein scheint, mit einem existentiellen Einschnitt wie dem Tod Franks umzugehen. Erst als die unausgesprochenen Konflikte nach dem Mord sichtbar werden, wird bewusst, welchen Stellenwert sie auch vor dem Ereignis bereits hatten. Der Mord ist nicht nur ein einschneidendes Ereignis, sondern ein schneidendes. Er schneidet in das Beziehungsnetz der Gemeinde und vor allem der Familie. Er reißt eine Wunde weit auf, die nie verheilt war – wie ein Hummer, der sich »in the bedroom« (dem Hummerkäfig) verfängt – und zwar ein Hummer zu viel, scheinbar ein Fremdkörper, etwas Fremdes, nicht zur Lebenswelt gehöriges, fast schon außerirdisches Moment, das alles durcheinander bringt.

Das Fatale an dieser Situation besteht vor allem darin, dass eine Lebenswelt ins Wanken gerät, die im positiven Sinne stabil zu sein scheint, in der wir uns alle mehr oder weniger aufgehoben fühlen würden. Doch zu dieser Welt gehört eben auch Richard. Das aber wollen die anderen nicht wahr haben. Denn Richard ist ein Störenfried, der »Außerirdische«, der angeblich nicht zu dieser Welt Gehörige. Kein Mensch fragt nach Richard, keiner will sich wirklich mit ihm beschäftigen, keiner will sehen. Auch Ruth nicht. Sie will nicht Richard sehen, sondern sie spürt nur die vermeintliche Fremdheit in ihm und durch ihn. Auch sie, gerade sie hält ihn für einen Fremdkörper, der nicht aus ihrer Welt kommt und nicht in ihre Welt gehört.

Richard ist ein zutiefst unsympathischer Mensch. Alle anderen Figuren des Dramas dagegen sind sympathische, freundliche, liebevolle Menschen. Der Ausgang dieses Dramas ist genau in diesem Bild zu suchen, das dem Publikum ebenso eindringlich vermittelt wird wie die Störung des Bildes, die alles auf den Kopf stellt. Fields Film (ver)stört, ohne in irgendeiner Weise zu bewerten oder zu verurteilen.

Tom Wilkinson spielt einen Menschen, der in sich zu ruhen scheint, der Ruhe ausstrahlt, der überlegt handelt, aber in vielen Situationen rat- und hilflos da steht, nicht weil er die Hände in den Schoß legt, sondern weil er einerseits mit bestimmten Konflikten nicht umgehen kann, andererseits in Liebe zu seiner Familie handelt und handeln will, der zu verstehen versucht, der die Friedfertigkeit des Milieus aufrechterhalten, ja retten will – und trotzdem scheitert.

Sissy Spacek als bemühte, liebende, aber eben auch zu sehr in das Leben ihres Sohnes eingreifende Mutter, die der Situation nach dem Tod ihres Sohnes endgültig nicht mehr gewachsen ist, spielt ebenso überzeugend wie Marisa Tomei als Natalie, die nach dem Mord an Frank in eine schier ausweglose Situation gerät. Auch die anderen Rollen, insbesondere William Mapother als Richard, aber auch William Wise und Celia Weston als enge Freunde der Fowlers sind hervorragend besetzt.

»In the Bedroom« ist ein in jeder Hinsicht erschütternder Film, eine intensive Studie über die Störung eines Milieus, das in jeder Hinsicht stabil erscheint. Field löst die Normalität dieses Milieus nach und nach auf, er präsentiert die Bruchstücke, die Angriffspunkte, die Verletzlichkeit und die Hilflosigkeit einer vertrauten Lebenswelt. Er erzählt diese Geschichte und überlässt die Konsequenzen des Erzählten vollständig dem Betrachter. Field liefert keine Lösungen, die Inszenierung weigert sich, mit Erklärungen zu beruhigen.

In the Bedroom
USA 2001, 130 Minuten
Regie: Todd Field
Drehbuch: Rob Festinger, Todd Field, nach einer Geschichte von Andre Dubus
Hauptdarsteller: Tom Wilkinson (Dr. Matt Fowler), Sissy Spacek (Ruth Fowler), Nick Stahl (Frank Fowler),
Marisa Tomei (Natalie Strout), William Mapother (Richard Strout), u.v.a.

Ulrich Behrens

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