Proaktives Opfer

Ben (Colin Firth) erwacht aus einem Koma, nachdem er einen Autounfall hatte. Er glaubt, dass seine Frau bei dem Unfall gestorben ist, kann sich aber an nichts erinnern. Die TV-Bilder der jüngst ermordet aufgefundenen Pop-Sängerin Laureen Parris (Alison David), mit der Bens Frau bekannt war, scheinen seinen Verdacht zu bestärken. Ben bringt auf Grund der Amnesie beide „Fälle“ immer wieder miteinander in Verbindung und würfelt die Fakten durcheinander. Das macht ihn bei der Polizei verdächtig, etwas mit dem Mord an der Sängerin zu tun zu haben. Nachdem Ben aus dem Krankenhaus entlassen ist, lernt er eine junge Frau (Mena Suvari) kennen, die in direkter Nachbarschaft zu ihm lebt. Sie will Ben helfen, wird von ihm jedoch immer tiefer in seine Welt aus Paranoia und Angst hinein gezogen. Als Bens Frau eines Tages unerwartet vor seiner Tür steht, bricht sein illusorisches Weltgebäude zusammen.

Marc Evans hatte bereits 2002 mit seinem Film „My little Eye“ bewiesen, wie leicht das Grauen der Innenwelt auf die Außenwelt projizierbar wird, wenn die Faktenlage über die Wirklichkeit brüchig ist. Waren es dort in einem Haus eingesperrte junge Leute, die eine Art „Big Brother“-Show durchzustehen hatten, die sich schließlich als Real-Time-Snuff-Event entpuppt, so überträgt „Trauma“ dieses Sujet von einer mikrosozialen auf eine noch engere, die individuelle Ebene. Zusammen mit dem Protagonisten sind wir in dessen Wirklichkeit gefangen – ein Identifikationseffekt, der sich im jüngeren Thriller-Kino („High Tension“, „The Machinist“, „Dedales“) langsam durchsetzt – und bekommen nur seine Sicht der Dinge präsentiert. Wenn sich – wie bei „My little Eye“ – das bisher gesehene als Trug entbirgt, die Illusion platzt und wir gezwungen werden, die Fakten neu zu bewerten, stößt uns das auf unser eigenes hermeneutisches (Un-)Vermögen, Biografien objektiv zu verstehen. Wir ergreifen stets Partei, glauben stets, anstatt zu wissen und speisen unser Bild von der Wirklichkeit immer zu einem gewissen Maß aus unserem Fundus an Erwartungen, die im Film nicht selten die von Genre-Klischees sind.

„Trauma“ ist aber weit mehr als ein Lehrstück über den Konstruktivismus der Filmrezeption. Er ist auch das intime Zeugnis einer biografischen Katastrophe: Ben wurde von seiner Frau verlassen und spinnt sich eine Erzählung zurecht, die ihn nicht als Opfer sondern als Agens der Umstände dastehen lässt. Seine Umwelt reagiert mit Verstörung auf die wirren Konstruktionen, doch der fast schon pathologische Zwang, der bestimmende Faktor der eigenen Biographie zu sein und zu bleiben, hindert Ben daran, seine Sicht der Dinge der Wirklichkeit anzupassen. Wir bekommen seine Leidensgeschichte aus aller nächster Nähe zu Gesicht – anders würde der „neurotische Übertrag“ auf den Zuschauer wohl auch nicht umzusetzen sein: Groß und Detailaufnahmen von Gesichtern und anderen Körperteilen sind hier nicht nur Sinnbild der Fragmentierung einer Person, sondern versuchen diese Fragmente neu zu arrangieren, um aus den Close-Ups eben jene neue Person entstehen zu lassen, deren Geschichte wir glauben sollen.

Dass das Funktioniert ist vor allem dem überragenden Schauspiel Colin Firth zu verdanken. Wohl selten gibt es einen Psychotiker im Film zu sehen, dessen Innenleben so intensiv auf der Oberfläche – in Mimik und Körperhaltung – erfahrbar wird. „Trauma“ ist selbst in seinen extremsten Bildern damit nie abstoßend, sondern fordert beständig zur Empathie und zur Antizipation des Handlungsverlaufs auf. So entsteht ein Film, der, indem er seine Zuschauer bewusst in die Irre führt, ihnen dennoch einen Weg in das Innenleben seiner Figur weist – ein Ort, an dem die Zuschreibungen von „wahr“ und „falsch“ keinen Sinn mehr machen. Und getreu der konstruktivistischen Behauptung, dass sich die Wirklichkeit unseren Vorstellungen beugen wird, erfüllt sich schließlich auch Bens Alptraum am Ende des Films.

Trauma
(GB 2004)
Regie: Marc Evans, Buch: Richard Smith, Musik: Alex Heffes, Kamera: John Mathieson & Nic Sadler, Schnitt: Mags Arnold
Darsteller: Colin Firth, Naomie Harris, Tommy Flanagan, Mena Suvari u.a.
Länge: 88 Minuten
Verleih: Warner

Stefan Höltgen

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