Allem Anfang wohnt ein Unfall inne

Paul Virilio ist einer der letzten großen französischen Denker der postmodernen Kulturtheorie, der noch lebt und produktiv ist. Bekannt geworden durch seine Untersuchungen zur Bunkerästhetik, zur Beschleunigung sowie zur Vernetzung von Kriegs- und Medientechnologie hat sich Virilio zu einem der führenden Stichwortgeber der heutigen Medien- und Kulturwissenschaft etabliert. Vor allem sein Konzept der Dromologie hat weit reichenden Einfluss auf die Entwicklung medien-kultureller Theoriebildung bekommen. Autoren wie der Soziologe Hartmut Rosa haben Teile ihrer Forschung im Anschluss daran entwickelt um zu zeigen, dass die Beschleunigung eine Erklärungspotenz besitzt, die sich auf vielfältige(re) Bereiche als allein die Entwicklung von Verkehrs- und Medientechnologien beziehen lässt. Sie ist quasi als Paradigma der westlichen Moderne anzusehen. Doch mit der steten Beschleunigung – das hat Virilio auch immer wieder betont – wird die katastrophale Entschleunigung, also der Unfall, auch immer bedeutsamer.

In seinem jüngsten Essay-Band „Der eigentliche Unfall“ überträgt Virilio diese Überlegung aus seiner dromologischen Theorie auf die kulturelle Entwicklung des 20. und 21. Jahrhunderts. Unfälle sieht er überall als die notwendigen Konsequenzen beschleunigter Lebensweisen. Sie zeigen sich als technologische Katastrophen (wie in Tchernobyl), als humanitäre Katastrophen, als wirtschaftliche Zusammenbrüche, als kriegerische Konflikte. Das Wesen des Unfalls, diese These übernimmt Virilio von Paul Valéry, ist jedoch nicht etwa seine Unerwartetheit, sondern – im Gegenteil – seine Notwendigkeit: Der „Unfall der Erkenntnis“, wie Virilio ihn nennt, basiert auf einer dialektischen Wendung des „Normalfalls“. Im Unfall wird das Ding erst erfahrbar, die Wahrscheinlichkeit des Unfalls wird zur Gewissheit proportional zu dem Maße, wie die Kultur Dinge hervorbringt. An einem Beispiel: Der Eisenbahnunfall ist erst möglich durch die Erfindung der Eisenbahn. In der Eisenbahnfahrt ist der Unfall bereits als diese Möglichkeit angelegt, wie im Flugzeug, im Atomkraftwerk und in jedem anderen „Fall“. Die Akzidenz (Virilio betont die Nähe des Aristotelischen Begriffs zum „accident“) bringt die Substanz also erst zum Erscheinen.

Diese Wendung des Blicks auf den Unfall sieht Virilio auch in anderen Theorien des 20. Jahrhunderts aufscheinen. So zitiert er etwa Albert Einstein, für den der Unfall ebenso ein vorbestimmter Punkt auf dem Weg durch die Zeit ist, der sich weder verhindern noch hervorrufen lässt, sondern einfach ist und nur noch erreicht werden muss. Die Möglichkeiten ein solches Verständnis auf alle großen und kleinen Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu applizieren und die Kulturgeschichte damit zu einer Kulturgeschichte des Unfalls umzudeuten, als eine latente Produktion von Unfall-Möglichkeiten: Das ist das Ziel der neun Kapitel des Bandes. Ein derart fatalistisches und deterministisches Denken lässt sich natürlich ideal mit den Überlegungen zur Posthistoir kombinieren, zu deren Theoretikern auch Virilio gezählt wird. Dies drückt sich in seinem Ansinnen aus, dem Unfall ein Museum zu setzen, in dem die Katastrophen konserviert und ausgestellt werden. Die elektronischen Massenmedien erfüllen Virilio zufolge diese Funktion bereits.

Die erste Hälfte von „Der eigentliche Unfall“ enthält Texte, die Virilio für die Ausstellung „Ce qui arrive“, welche 2002-2003 in der Fondation Cartier stattgefunden hatte, verfasst hat. Im zweiten Teil ergänzt und erweitert er diese Überlegungen, indem er sie auf andere Kulturbereiche überträgt und an seine früheren Theorieentwürfe zurückbindet. Vielleicht ist diese Quellenlage auch der Grund dafür, dass „Der eigentliche Unfall“ das bislang am disparatest wirkende Werk Virilios geworden ist. Die einzelnen Kapitel (oder eben Essays) wirken, zu einem Buch zusammengefasst, stark redundant. Ideen, Definitionen und Beispiele werden mehrfach wiederholt, zeitweise bekommt man beim Lesen den Eindruck, dass die Argumentation sogar ins Stocken geraten ist. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass sich die Stilistik Virilios hier gegenüber seinen früheren Werken sehr stark „verdunkelt“ hat. Endlose Assiziationsketten reihen sich aneinander. Die Metaphorik, wie häufig bei den Denkern der Postmoderne aus anderen Wissenschaften entlehnt, entfernt sich hier noch weiter von ihren Ursprungsbedeutungen und wird über weite Strecken zum bloßen Wortspiel.

Die Masse an Kulturphänomenen, die Virilio in seinem Essay zur Ansprache bringen will, provozieren diese Art zu schreiben offenbar. Wie selten zuvor entfernt sich der Autor in „Der eigentliche Unfall“ von seinem Image, einmal der klarste Denker der französischen Postmoderne gewesen zu sein, derjenige mit der meisten „Bodenhaftung“. Dieser späte Virilio-Text liest sich schon beinahe wie die Arbeiten seines 2004 verstorbenen Landsmannes Jean Baudrillard, für den der Vollzug des Schreibens selbst schon zur Theoriebildung gehört hat. In gewisser Hinsicht ist das schade, weil es den Zugang zu den neuen Überlegungen (zu) stark erschwert. In anderer Hinsicht ist es aber auch konsequent, weil die Art der Theoriebildung und Textproduktion damit selbst zu einem Phänomen der Beschleunigung geworden ist, das – in der assoziativen Rhetorik – nun an den vorprogrammierten Punkt seines Unfalls gelangt ist.

Paul Virilio
Der eigentliche Unfall
Wien: Passagen Verlag 2009
127 Seiten (Taschenbuch), 16,90 Euro

Dieses Buch bei Amazon kaufen.

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.