»Space-Lab«

»Es gibt keinen Ausweg. Die Stadt gehört uns. Wir haben sie erschaffen. Wir haben diese Stadt gestaltet auf dem Fundament gestohlener Erinnerungen; aus den verschiedenen Epochen formten wir sie zu einer einzigen Symphonie. Wir verbessern sie jede Nacht, wir kultivieren sie, um zu lernen.«
(Geständnis eines Außerirdischen in Dark City)

Die Tirade »Stadt – Erinnerung – Utopie« ist ein lukrativer Themenkomplex für den modernen Science Fiction-Film. Bündeln sich doch in allen drei Phänomenen entscheidende Muster der gegenwärtigen Kultur. Urbane Entwürfe im Film sind quasi immer (im Wortsinne) »u-topisch« und wenn die Stadt und ihre Architektur der zentrale Erzählgegenstand sind, dann geht es fast immer ums Verirren – das Eintauchen in und das schließliche Auftauchen der Protagonisten aus dem Stadt-Dschungel. Vor allem im Mainstream-Film hat sich diese Motiv-Verknüpfung oft ergeben und ist wissenschaftlich stets dankbar aufgenommen worden. So wimmelt die Stadtsoziologie von Aufsätzen über Fritz Langs Metropolis oder Ridely Scotts Blade Runner. Letzterer wurde ebenso bereits in eine Untersuchung über Mnemotechniken verwickelt . (Vgl. Shaw, 203 – 214)

Diese Motiv-Triade will ich im Folgenden zu Alex Proyas Film Dark City (USA 1996) anschneiden. Der Film ist seinem Sujet nach ein Hybrid aus Film Noir und Science Fiction. Dark City zeichnet – wie der Titel schon andeutet – ein düsteres Bild der Stadt; einer Stadt, außerhalb derer nichts existiert. Sie stellt keinerlei archimedischen Punkt dar – weder zeitlich noch räumlich. Sie ist für ihre Bewohner zum »Rest der Welt« geworden – ohne Ein- oder Ausgang. Also ist Dark City ein sinnfälliges Beispiel nicht nur dystopische Stadtfilme sondern auch für die Verknüpfung von Erinnerung und Urbanität.

Synopsis

Dark City beschreibt eine unbenannte Stadt, die in ständige Nacht getaucht ist. Dort versucht die Polizei, Morde an Prostituierten aufzuklären. Im Zentrum des Verdachts steht John Murdoch, der jedoch unter vollständiger Amnesie leidet. Auf der Flucht vor der Polizei erfährt er nach und nach seine Identität und dass er verheiratet ist. Doch er stellt auch fest, dass er seltsame Kräfte besitzt, mir deren Hilfe er Gegenstände bewegen, verändern und sogar erzeugen kann.

Zur selben Zeit erfahren wir (aus dem Off) von Dr. Schreber, einem Psychiater, der der Polizei bei der Suche nach John hilft, dass die Stadt von einer aussterbenden Rasse von Außerirdischen kontrolliert wird, die über dieselben Kräfte wie John verfügen. Dr. Schreber arbeitet ebenso für die Außerirdischen: Er hilft ihnen, die Menschen der Stadt mit künstlichen Erinnerungen zu manipulieren. Die Außerirdischen erhoffen sich vom Potential menschlicher Erinnerung, einen Schlüssel für die eigene Unsterblichkeit.

Zu diesem Zweck wird die Stadt immer um 12 Uhr (ob Mittag oder Mitternacht lässt sich in der Dark City nicht entscheiden) in vollständigen Schlaf versetzt und die Außerirdischen können mit Schrebers Hilfe und ihren eigenen telekinetischen Kräften (dem sog. »Tuning«) Menschen, Straßen und Stadt völlig umgestalten. Die Stadtbewohner ahnen nichts von alledem und erwachen später wieder mit der Erinnerung an vergangene »Tage«, die sie nie erlebt haben. Der einzige, der gegen diese Manipulationen immun zu sein scheint, ist John Murdoch. Und so ist nun nicht mehr nur die Polizei auf seinen Fersen, sondern auch die außerirdische Macht, die ihn entweder vernichten oder ihn zu einem der ihren machen will.

Dr. Schreber macht sich (vorgeblich im Auftrag der Außerirdischen) auf die Suche nach John Murdoch. Als er ihn findet, verrät er ihm, dass die Morde, die John begangen haben soll, nur ein fehlgeschlagenes Erinnerungsimplantat darstellen. Dr. Schreber plant, mit John – dessen »Tuning«-Kräfte die der Außerirdischen noch übertreffen – die Stadt von den Außerirdischen zu befreien. Als John ihn fragt, warum es immer Nacht ist und warum alle Menschen zur selben Zeit in Schlaf fallen, verrät Schreber ihm das Geheimnis der Außerirdischen. John glaubt ihm zunächst nicht und macht sich auf die Suche nach einem Ort seiner Erinnerung: »Shell Beach«, ein Strand, an dem er in seiner Kindheit gewesen zu sein glaubt.

Er versucht, mit der U-Bahn aus der Stadt zu gelangen, stellt jedoch fest, dass die »Shell Beach«-Linie, auf die er von allen verwiesen wird, gar nicht existiert. Als er schließlich mit Schreber und dem Kommissar, dem er die Verschwörungsgeschichte beweisen will, auf einem Kanal zur Grenze der Stadt rudert, muss er feststellen, dass die Stadt von einer Mauer umgeben ist und an der Stelle, an der es zu »Shell Beach« gehen soll nur ein riesiges »Shell Beach«-Plakat hängt. Er schlägt mit seinen »Tuning«-Kräften ein Loch in die Mauer, das den Blick auf das Weltall freigibt.

Kurze Zeit darauf kommen die Außerirdischen bei John an und es kommt zum finalen Kampf, bei dem der Kommissar ins Weltall stürzt und den John schließlich gewinnt. Zum Schluss lässt er durch seine Kräfte um die Stadt herum ein Meer, eine Sonne und den von ihm so lang gesuchten »Shell Beach« entstehen.

Erzählgrenzen

»›Dark City‹ ist mindestens vier Eintrittskarten wert: Geboten wird Science Fiction, Horror, Gangsterfilm mit starken Film Noir-Anklängen und auch noch eine zu Herzen gehende Liebesgeschichte. Filmklassiker wie ›Nosferatu‹, ›Metropolis‹, ›Dr. Jeckyll und Mr. Hyde‹ und ›Blade Runner‹ grüßen aus allen Ecken und Enden«, schreibt Ursula Vossen in ihrer filmdienst-Besprechung. Und in der Tat scheint Dark City eine Zusammenfassung des dystopischen Stadtfilms zu sein: die expressionistischen Bauten aus Metropolis und Caligari, die Atmosphäre aus den Filmen der Schwarzen Serie und Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder, das futuristische Ambiente aus Blade Runner und Dune – Der Wüstenplanet. Darüber hinaus bildet Dark City jedoch auch einen düsteren Endpunkt visionären Stadtentwurfs, der erst von Matrix (USA 1999) und Star Wars – Episode I (USA 1999) übertroffen wird. Die namenlose Dark City ist in ewige Nacht gehüllt, was einerseits »die ewige Finsternis« nach dem jüngsten Gericht, andererseits die Dunkelheit vor dem Schöpfungsakt versinnbildlicht, die der Film in seiner Handlung thematisiert.

Die fremden Mächte, die die Stadt kontrollieren, haben nicht nur Gewalt über ihre Morphologie. Die sich ständig wandelnde Stadtarchitektur steht auch in direktem Verhältnis zum sozialen Gefüge. Das Unüberschaubare des Sozialen spiegelt sich quasi in den ge»morphten« Straßenzügen und den kleinen Häusern, die in Sekundeneile in Luxusvillen verwandelt werden. Die Kontrolle der Außerirdischen über die Stadt ist gleichzeitig die Kontrolle über Schicksal der Bevölkerung.

Das Gedächtnis der Stadtbewohner ist synthetisch. Authentische Erfahrung existiert nicht (mehr). Erinnerung ist eine Konserve, deren Dosierung das Individuum nicht einmal selbst bestimmen kann. Der Stadtmensch in Dark City ist all dessen beraubt, was das Subjekt auszeichnet: Die Einheit der Person, konstituiert durch ihre Erinnerung, welche ihr selbst Identität und Individualität verleiht.

Damit bildet der Film eine Einschätzung Hermann Glaser ab: »Die Stadt lokalisiert Hoffnungen auf paradiesische Heimat; zugleich löst sie, mit ihrer Übergröße und Hektik, Identität auf.« (zit. n. Horwarth/Schlemmer, 202) Diese Auflösung der Identität ist in Dark City eine wörtlich genommene Metapher. Und Glasers Gedanke lässt sich sogar noch weiterspinnen: Die Stadt suggeriert zwar in ihrer Binnenperspektive vollständige Freiheit (vermittelt durch ihre ökonomische wie soziale Vielfalt), stellt jedoch aus der Außenperspektive ein geografisches »Gefängnis« dar. Dark City deutet mit seiner ummauerten und vom »Nichts« des Weltalls umgebenen Stadt an, dass es keine Alternative zum Stadtleben mehr gibt, dass die Verstädterung irreversibel ist.

Für den Plot, in dem die Kriminalgeschichte des potentiellen Prostituiertenmörders John erzählt wird, spielt die Möglichkeit der »freien Entfaltung« zunächst keine Rolle. Der Dirnenmord ist schon immer ein stadtgenuines Sujet gewesen (Jess Francos Jack the Ripper, ist in London angesiedelt, Lucio Fulcis The New York Ripper, in New York oder Romuald Kamakars Der Totmacher, der auf dieselbe Begebenheit zurückweist, wie Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder, der in Berlin spielt, die Geschichte des Hannoveraners Fritz Haarmann). Dieser Plot benötigt kein Außen, ja, bedarf sogar des Stadtinnern, denn solche Kriminalgeschichten insistieren nachgerade auf das Krankhafte des Urbanen. Damit ist die Dark City ein auch ein narratives Modell für den Film noir-Krimi: Als uns die Kamera die Stadt von Außen zeigt, sehen wir, wo die Geschichte angesiedelt ist: Im bewohnten Zentrum des Nichts. Die Stadt ist der einzige belebte Ort, an dem »Geschichten« möglich sind – rundherum nichts als (auch erzählerisches) Vakuum. Es wird zwar von Schreber behauptet, die Menschen in der Dark City seien von den Außerirdischen entführt worden, doch weil die Erinnerung des Psychiaters selbst auch nur unvollständig ist (nicht ohne Grund scheint er denselben Namen wie der wohl berühmteste Schizophrene der Psychiatrie-Geschichte, Paul Schreber, 1842 – 1911, zu tragen), ist es genauso möglich, dass die Dark City das einzige ist, was von der Welt übrig ist. Und damit – wie im Film noir – »die Welt zur Stadt geworden«.

Stadtgrenzen

Die dunkle Stadt ohne Ausgang (mit Ausnahme dem des Todes, den ein Protagonist, der die Wahrheit ahnt, vorzieht) ist Proyas Entwurf der Zukunft des Urbanen. Die Stadt lässt Expansion nur noch virtuell – in Form der sich allnächtlich verschiebenden Fassaden – zu; ein geografisches »über die Stadtgrenzen Hinauswachsen« ist in keine Richtung nicht möglich. Das Gefühl des Eingesperrtseins und der Unübersichtlichkeit wird durch die Dunkelheit noch potenziert: »Es scheint keine Sonne mehr in dieser Stadt. Sie ist verschwunden. Ich bin nämlich seit Stunden um Stunden wach und warte auf den Tag. Aber die Nacht nimmt kein Ende.« Aus diesen Worten John Murdochs spricht Desorientierung. Was John mit der Sonne fehlt, ist der Überblick, was den Überblick ersetzen könnte, wäre ein Stadtplan. Diesen erstellt er sich im Verlauf der Handlung durch das Abstecken der Grenzen seiner Stadt.

Und so dystopisch wie der Film verläuft, so utopisch endet er: Murdoch, der die Außerirdischen vernichtet hat, »erschafft« die Welt neu. Zunächst den Ozean, dann lässt er die Sonne aufgehen und beendet sein Werk, indem er kleine Inseln aus dem Meer auftauchen lässt. (Dass Murdoch und seine Geliebte die allerersten Bewohner seines neuen nicht-urbanen Paradieses sind, sei hier nur am Rande erwähnt.) Die Schöpfung Johns versinnbildlicht seinen Sieg gegen die Außerirdischen, die gegen Licht und Wasser allergisch sind. Die Parallelen zur Genesis 1 sind überdeutlich. Doch die Glaubenswahrheit der christlichen Mythologie ist nur ein schwaches Gegengewicht zur historischen Wahrheit, die Dark City entwirft: Rettung vor der Stadt der Zukunft ist möglich, jedoch einzig durch das Wunder einer Neuschöpfung (oder eben des jüngsten Gerichts).

Erinnerungsgrenzen

Die außerirdischen Erinnerungsforscher der Dark City suchen nach der materiellen Verfassung des Gedächtnisses. Das haben sie mit den Gedächtnistheoretikern des ausgehenden 19. Jahrhunderts gemeinsam, die in der Substanz des Gehirns, der Materie des Speichers, nach dem Speicherinhalt forschten und damit die Frage nach dem Leib-Seele-Dualismus für die Hirnphysiologie aufwarfen: »Zentral für das Gedächtnis der Jahrhundertwende ist die Tatsache, daß es Ort einer Erkenntnis ist, die nur auf körperlicher Grundlage möglich ist, und deren Status gegenüber der philosophischen Erkenntnis zwar ungewiß bleibt, dieser aber dennoch überlegen ist. Es rekonstruiert nicht, sonder es oszilliert zwischen harter Reproduktion und freier, lebendiger Projektion.« (Klippel, 49)

Proyas’ Film lässt seine Forscher also einerseits diese Fragestellung wieder aufnehmen, transzendiert sie jedoch andererseits, indem er sie filmisch inszeniert. Denn das zur selben Zeit wie die Gedächtnistheorien entstehende Kino steht als »Massenspeicher« genau für diese Frage der »Materialität von Gedächtnis«. Die Substanz des kinematografischen Gedächtnisses ist das Zelluloid, ihre Information ist das darauf befindliche Bild. Film konserviert optische (und später auch akustische) Inhalte und erinnert den Betrachter damit an den gefilmten Gegenstand, selbst wenn dieser in den meisten Fällen gar nicht bei der Aufzeichnung dabei war. Also ist auch Film ein künstliches Gedächtnis, ein Implantat, das über die Wahrscheinlichkeit seiner ästhetischen Verfahren Wirklichkeit wiederholt oder simuliert.

Damit werden die Forscher in Dark City zu Regisseuren. Ganz analog wie in Paul Verhoevens Total Recall (1990) implantieren sie Erinnerungsbilder in ihren Versuchspersonen, verhelfen diesen damit zu biografische Details. Die Erinnerungen entstehen in den Köpfen der schlafenden Bewohner wie Träume. Das »Auftauchen« dieser Traumbilder wird von Proyas visuell auch als ein Auftauchen umgesetzt. Jeweils ein Erinnerungsfragment wird bildlich auf das nächste gelegt – verdeutlicht durch eine verzerrte Wischblende aus dem Bildzentrum heraus. Es sieht ein bisschen wie ein Film im sichtbaren Schnellvorlauf aus, der da vor dem geistigen Auge der Träumenden abläuft.

Wenn das Experiment gelingt – und es gelingt bei allen, außer bei John – entsteht neben den simulierten Erinnerungsfragmenten auch eine neue mentale Stadtkarte. Anders ausgedrückt: Die Außerirdischen bringen damit die mental map der Schlafenden mit der Stadtkarte zur Deckung. Die Ränder der Dark City sind gleichzeitig die Grenzen der räumlichen Vorstellungskraft ihrer Bewohner. Einzig bei John funktioniert das nicht. Nicht nur, dass er als einziger nicht schläft und nicht von der neuen Stadt träumt, seine mental map überlagert die Stadtkarte. Für ihn macht die Frage: „Was ist außerhalb?“ im Gegensatz zu seinen Mitbürgern, durchaus einen Sinn. Er gehört damit zu denselben ausbrechenden Charakteren, wie Truman aus der Truman Show (USA 1998) oder die Jugendlichen aus Pleasentville (USA 1998), unterscheidet sich jedoch von diesen darin, dass seine Ausbruchsversuche nicht als adoleszentes Erwachen gelesen werden können. Dark City ist keine solche Parabel.

Ansichtskarte

Platzhalter für die Frage „Was ist außerhalb?“ ist eine Ansichtskarte von Shell Beach. Shell Beach ist in der Erzählung von Dark City ein U-Topos, denn der Ort existiert »nirgends«. Einzig in seinen Signifikanten ist er zu finden: In den Erinnerungsvektoren Johns, auf einer Postkarte und auf dem Schild einer U-Bahn, der »Shell Beach Line«. Worauf verweisen diese Signifikanten? Sie verweisen auf eine Leerstelle, über die ein riesiges Plakat gehängt wurde. Diese Leerstelle versucht John mit Bedeutung und Raum zu füllen, was ihm am Ende auch gelingt. Seine Neuschöpfung der Welt ist damit – wie jede Schöpfung – vor allem ein Signifikationsprozess: „Fiat lux!“

Es ist kein Zufall, dass Johns Erinnerung an Shell Beach durch eine Ansichtskarte auf die Sprünge geholfen wird. Die Postkarte ist eine Erfindung des Klagenfurter Nationalökonoms Dr. Emanuel Hermanns aus dem Jahr 1869, die sofort ein durchschlagender Erfolg geworden ist. Mit ihr konnte die schriftliche symbolische Information via Trägermaterial fest an eine bildliche Information gekoppelt werden. Die Ansichtskarte erfüllt damit für die Erinnerung eine Doppelfunktion: Durch Schrift speichert sie die subjektiven, durch Fotografie die »objektiven« Eindrücke fremder Orte und vergangener Zeiten. Die Postkarte steht damit nicht nur historisch im Verhältnis zur Gedächtnistheorie. Auch ist materielles, externalisiertes Gedächtnis und damit ein Artefakt, dass das Misstrauen des modernen Menschen gegenüber der Objektivität des eigenen Gedächtnisses und seine Sehnsucht nach dem Authentischen ausdrückt.

Die Ansichtskarte Johns erfüllt ebendiese Funktion: Sie ist für ihn objektiver Beleg dafür, dass etwas nicht stimmt in der Dark City. Mag seine eigene Erinnerung ihn vielleicht täuschen, die Ansichtskarte täuscht ihn nicht: Shell Beach existiert. Die Suche nach diesem Ort ist damit für John eine Art Memory-Spiel: Er sucht das Pendant zum auf der Karte abgebildeten Foto. Als er es schließlich auf einer Mauer der Stadt findet und es umdreht (eine Spielregel des Memory-Spiels: Die Wahrheit befindet sich immer auf der Rückseite der Karte), gähnt ihn Leere an. John Murdoch hat damit das Spiel eigentlich verloren, obwohl es so »aussieht« als ob er es gewonnen hat. Aber weil er ein schlechter Verlierer ist, dafür aber ein guter Kolonialist, füllt er diesen letzten »weißen Fleck« auf der Stadtkarte Dark Citys und erschafft kurzerhand das Gegenstück zum Bild auf der Postkarte.

Die Stadt von morgen als das Labor von heute

Dark City erweist sich als Experimentalfilm im Wortsinn. Die Stadt wird von den Außerirdischen genutzt, um »etwas« herauszufinden. Neben ihrer Funktion als Erinnerungsraum weist sie erstaunliche Ähnlichkeit zu den virtuellen Städten (den »Cyber Citys«) im Internet auf: Sie existiert qua reinem Willen, außer ihr existiert nichts anderes im »Raum«, sie expandiert einzig virtuell.

Die Stadt wird zum Experimentierfeld der außerirdischen »Futurologen«. Sie ähnelt der »Nomadenstadt«: »[Frage:] Wie sehen solche Nomadenstädte aus? In einer suburbanen Region wie Los Angeles bewegen sich zwar die Menschen viel im medialen und urbanen Raum, aber die Architektur bleibt weiterhin stationär. [Antwort:] Die Häuser sind dort ja nicht stationär, sie werden alle 10 oder 15 Jahre niedergerissen und neu gebaut.« (Prix, 207) Das geht in der Dark City – wenn auch schneller – genau so.

Wie die Cyber Citys stellt auch die Dark City für ihre Forscher so etwas wie eine »Stadt als Metapher für einen anschaulichen Informationszugang« (Bannwart, 87) oder ein »Stadtmodell als virtuelle Simulationsumgebung« (Bannwart, 91) dar. Auch sie ist »ein Konzept, das Erscheinungsbild der Stadt als Browser zu benutzen, um möglichst individuell und anschaulich an die erwarteten Informationen heranzukommen.« (Bannwart, 87) Nur sind in Dark City sind die Laboranten der virtuellen Stadt Außerirdische, die experimentieren, um den Untergang ihrer eigenen Spezies zu verhindern. Sie simulieren dabei, wie sich das seinem Langzeitgedächtnis beraubte Individuum auf eine sich ständig verändernde Umgebung anpasst und wie es auf das permanente »Re-Mapping« der Stadt reagiert.

Für die (terrestrische) Stadtsoziologie ist der Aufenthalt in virtuellen Städten (wie »Cyber City Berlin«) Ausdruck einer Sehnsucht nach raum-zeitlicher Unbestimmtheit des Subjekts: »Die unscharfen Stadtmetaphern, mit denen die virtuellen Städte belebt werden, sind Ausdruck für die Sehnsucht ihrer Bewohner, gleichzeitig die Dichte einer (online) anwachsenden Masse wie die Gefahr ihres Auseinanderfallens spüren zu können. […] Die Stadtmetapher, die uns zum Leben und zur Begegnung mit dem Fremden verführen will, ist deshalb die Grundlage für das Netz-Dasein überhaupt.« (Lovink, 55) Die Analyse der Cyber Citys durch die Soziologie weist also tatsächlich Ähnlichkeiten zur Situation der Außerirdischen in Dark City auf. Aus dieser Perspektive schließt sich Proyas Film nicht nur einer Traditionslinie der kinematografischen Stadtsoziologie (M, Metropolis, Blade Runner, …) an. Er verdeutlicht darüber hinaus das gedanken-experimentelle Potential dystopischer Filme, indem er eine Laborsituation (samt deren Gefahren für das Individuum sich darin zu verlieren) simuliert.

Quellen & Literatur:

  • Vossen, Ursula. Dark City. In: filmdienst. Ausgabe 17/1998. 51. Jahrgang, Köln 18.8.1998.
  • Horwath, A. & Schlemmer, G. Film und Stadt. In: Steiner, Winfried et al. (Hgg.). Kaos Stadt. Wien 1991, S. 198-215.
  • Klippel, Heike. Das »kinematographische« Gedächtnis. In: Karpf, E. et al. (Hgg.) (1998), S. 39-56.
  • Karpf, Ernst. Die Erinnerungsmaschine. Zu Total Recall von Paul Verhoeven. In: Ders. et al. (Hgg.) (1998), S. 149-156.
  • Karpf, E. et al (Hgg.) Once upon a time. Film und Gedächtnis. Marburg 1998 (Arnoldsheimer Filmgespräche)
  • Lovink, Geert. Virtuelle Städte und ihre Bewohner. In: Maar, Chr. & Rötzer, F. (Hgg.) (1997), S. 55f.
  • Bannwart, Edouard. Cyber City – Die Stadt im Kopf. In: Maar, Chr. & Rötzer (Hgg.) (1997). S. 87-94.
  • Maar, Chr. & Rötzer, F. (Hgg.) Virtual Cities: die Neuerfindung der Stadt im Zeitalter der globalen Vernetzung. Basel/Boston/Berlin 1997.
  • Perchinig, B. & Steiner, W. (Hgg.). Kaos Stadt: Möglichkeiten und Wirklichkeiten städtischer Kultur. Wien 1991.
  • Prix, Wolf D. Die Stadt ist wie ein Wolkenfeld. In: Maar, Chr. & Rötzer (Hgg.) (1997). S. 204-209.
  • Shaw, Debra Benita. Virtually Huma: Replicants & Subjectivity in Ridley Scott’s Blade Runner. In: Kalaga, W. H. & Rachwal, T. (Hgg.) Signs of culture: simulacra and the real. Frankfurt/Main u. a. 2000, S. 203-214.
  • Shaw, Debra Benita. Virtually Huma: Replicants & Subjectivity in Ridley Scott’s Blade Runner. In: Kalaga, W. H. & Rachwal, T. (Hgg.) Signs of culture: simulacra and the real. Ffm u. a.: Lang, 2000, S. 203 – 214.
  • Smuda, M. (Hg.) Die Großstadt als Text. München 1992.
  • Tormin, Ulrich. Alptraum Großstadt. Urbane Dystopien in ausgewählten Science Fiction-Filmen. Alfeld an der Leine 1996.

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