Sehen und Gesehenwerden

Wohl auf keinem Sektor ist das Medium so sehr Ware wie beim Film. Hohe Produktionskosten verlangen effektivstes Marketing und zielgenaue PR. Hinzu kommt, dass Film heutzutage ein riskantes Termingeschäft ist: Die Konkurrenz und die Raubkopierer warten nicht einmal, bis der jeweilige Film sich amortisiert hat, bevor sie ihr gewinnschmälerndes Geschäft beginnen. Das Nachsehen haben die Filmberichterstattung und damit auch der Kinozuschauer.

Der Beruf des Filmkritikers muss auf den Außenstehenden spannend und unterhaltsam wirken: Ständig ins Kino gehen und Filme – teilweise Wochen vor dem offiziellen Start – in der ungekürzten Originalfassung sehen, Neben dem freien Eintritt dann noch an Sektempfängen im Foyer teilnehmen und sowieso alle Getränke auf Verleihkosten bekommen. Obendrauf gibt es dann noch üppiges Pressematerial, für das sich jeder Fan ein Bein ausreißen würde. So interessant und spaßig, wie das alles klingt, ist es natürlich nicht. Will der Filmjournalist – der häufiger auch noch für andere Ressorts schreibt, gerade wenn er ein „Freier“ ist – von seinem Job leben, dann muss er nicht selten mehrere solche Veranstaltungen täglich absolvieren und zwischendrin Kritiken schreiben, die originell sind, dem jeweiligen Pressorgan angepasst sind und am besten noch vor den Texten der Konkurrenz auf dem Schreibtisch des Redakteurs liegen.

Zu diesen Schwierigkeiten, die der Beruf mit sich bringt (und jeder andere Beruf bringt Schwierigkeiten mit sich) gesellen sich in letzter Zeit aber noch andere. Und die liegen in der immer effizienteren PR-Maschinerie der Filmverleiher begründet. Es hat sich nämlich über die letzten Jahre herausgestellt, dass selbst die teuersten, aufwändigsten und starbesetztesten Produktionen zum Flop werden können, wenn ihre Veröffentlichung nicht minutiös geplant ist. Dazu gehört gerade bei großen Produktionen immer mehr, dass nicht viele Informationen über Qualität und Originalität des jeweiligen Films an die Öffentlichkeit dringen dürfen, bevor die wichtige erste Startwoche absolviert ist. Denn in dieser Woche und vor allem an deren Wochenende entscheidet sich, ob der Film sich für den Produzenten rechnet oder ein Verlust wird. Die Besucherzahlenstatistiken der letzten Jahre verdeutlichen: Macht der Film nicht sein Geld in der Startwoche, dann macht er es gar nicht mehr. Zweitauswertungen auf anderen Medien können diese Bilanz nur noch kosmetisch korrigieren.

Die PR-Maschinerie weiß sich da durchaus zu helfen: Damit ein Film dem potenziellen Zuschauer nicht schon im Vorfeld durch schlechte Presse madig gemacht werden kann, sind die Pressevorführungen extrem knapp vor dem offiziellen Start terminiert. Manchmal liegt gerade einmal eine Woche zwischen Pressevorführung und Bundes- oder gar Weltstart. Die Zeitungen und Zeitschriften, die nicht täglich oder wöchentlich erscheinen, haben bei so kurzfristigen Terminierungen das Nachsehen – eigentlich kann nur noch im Echtzeit-Medium Internet so schnell reagiert, kritisiert und publiziert werden. Gerade Weltstarts wie zum Beispiel „Matrix: Revolutions“ (Warner), die im deutschen Kinozuschauer das Gefühl mondäner Teilnahme evozieren, entpuppen sich aus dieser Perspektive schnell als ausgeklügelte Taktik der Produzenten und Verleiher: Wenn den Film (noch) niemand auf der Welt kennt und damit anderen von ihm erzählen kann, gibt es keine schlechte Mund- oder Schriftpropaganda und zündet damit der gewinnträchtige Sensationseffekt noch besser. Dazu gehört vor allem auch, dass die Presse möglich nichts vorher „verrät“.

Beim 1993er Start von Woody Allens „Manhatten Murder Mystery“ (Columbia) sah diese Schweigetaktik noch so aus, dass der Verleiher in der Einladung zur Pressevorführung freundlich darum bat, der Kritiker möge in seiner Replik die Pointe des Films nicht verraten. Ein guter Filmjournalist täte das ohnehin nie, denn in einer guten Filmkritik kommt es nicht darauf an, den Plot auf Zielgenauigkeit auszuwerten und erst recht nicht, dem Zuschauer mangels ästhetischen Argumenten auf so plumpe Weise die Freude am Film zu nehmen. Doch das Beispiel ist – im Hinblick auf die Medienentwicklung seit dem – eines „aus den guten alten Tagen“. Zur Pressevorführung von besagtem „Matrix: Revolutions“ (Warner) geisterte nämlich ein Gerücht ganz anderen Kalibers durch das Internet: Warner Brothers hätten angeblich eine „Sperrfrist“ für die Kritiken zu dem Film verhängt, um zu verhindert, dass die Presse den Film verreißt, bevor das Publikum merken könnte, dass er eventuell schlecht ist. Der Verleiher versicherte in einem Telefonat schnell, dass das Gerücht nicht stimmt und erbat sogar die Offenlegung der Gerüchtequelle. So etwas hat es in der bundesdeutschen Filmpresselandschaft noch nie gegeben und wird es auch nicht geben. Oder?

Von wegen! Als Verleiher Buena Vista zur Pressevorführung von Quentin Tarantinos „Kill Bill Pt. 2“am 14.04. einlud, prangte auf der Karte: „Sperrfrist für Filmkritiken bis zum 16.04.“. Die zweitägige Sperrfrist verwunderte umso mehr, da der Film ohnehin erst am 22.04. starten sollte und bis dahin zumindest für die höherfrequenten Medien genug Zeit bestand, eine Kritik vorab zu platzieren. Eine E-Mail-Anfrage bei der betreuenden Presseagentur Just Publicity lieferte die Antwort: „die Sperrfrist zu KILL BILL 2 besteht aus diesem Grund, da der Film auch erst am 16. April in den USA startet und es somit ein fast internationaler Start ist.“ (Wortlaut) Das war nicht nur keine logische Antwort auf die gestellte Frage, sondern warf gleich noch eine zweite auf: Und was hat die deutsche Filmpresse mit dem amerikanischen Filmstart zu tun?

Eine Sperrfrist für Filmkritiken hatte es in Deutschland bis dahin noch nicht gegeben. Ein kleiner Aufschrei im Internet und ein Aufruf zum „Kritiken-Boykott“ konnten aber trotzdem nur die Solidarität kleiner Publikationen nach sich ziehen. Hierzu herrscht unter den Kollegen häufig die Befürchtung, dass die Hand, in die man beißt, eventuell das Füttern, sprich: die Einladungen zu Pressevorführungen, einstellt. (Auch der Autor dieses Artikels ist sich dieser Gefahr bewusst, aber zum Glück nicht gezwungen allein vom Verkauf seiner Filmkritiken zu leben, so dass er sich erlaubt, auf das Problem einmal deutlich hinzuweisen.) Jedenfalls war ab diesem Moment klar, dass die Filmpresse nun endgültig in die PR-Maschinerie der Verleiher eingespannt werden sollte. Wenn man dem Kritiker erst einmal vorschreiben konnte, wann sie ihrer journalistischen Informationspflicht frühestens nachkommen dürften, dann ließe sich weiteres sicherlich auch planen.

So absurd es klingt: Derzeit sieht es so aus, als würde eines der problematischsten Themen der Medienbranche – der Filmraubkopientausch über das Internet – ebenfalls zur Domestizierung der Filmpresse genutzt. Seit ein paar Monaten ist es bei den Pressevorführungen von Großproduktionen wie „Herr der Ringe“ (Warner), „Kill Bill Pt.1 und Pt. 2“ (Buena Vista) oder „The Day after Tomorrow“ (UIP) nämlich gang und gäbe, dass die eingeladenen Pressevertreter sich extremem Misstrauen ausgesetzt sehen. Handys, Jacken und Taschen müssen an einer speziellen Garderobe abgegeben werden, seit kurzem wird man mit mehreren Sorten von Metalldetektoren auf mitgebrachte Aufnahmetechnik durchleuchtet und jüngst sogar einer Körperabtastung unterzogen, bevor man als Pressemensch ins Kino darf. Der allerneueste Misstrauensbeweis: In den Pressevorführungen zu „The Day after Tomorrow“ (Fox) und „Shrek 2“ (UIP) stürmen nach dem Dunkelwerden auf einmal Schwarz gekleidete Herren den Kinosaal und postieren sich mit Nachtsichtgeräten (oder Infrarot-Kameras? Die Nachfrage bei der anwesenden Pressebetreuerin ergab da nur ein: „Ich kann dazu nichts sagen. Da müssen Sie sich an den Verleiher wenden.“) in den Ecken, um die Pressevertreter während des gesamten Films im Auge zu behalten.

Nun fragt sich sicherlich derjenige, der in letzter Zeit schon einmal eine Raubkopie aus dem Internet gesehen hat, welchen Sinn denn ein solches Überwachungsszenario hat. Ist denn wirklich zu befürchten, dass ein Journalist während der Pressevorführung sein filmtaugliches Handy, um damit Raubkopien fürs Internet herzustellen? Wer schaut sich denn – vorausgesetzt, die Technik würde das überhaupt hergeben – bitteschön einen Film an, den jemand im Kino mit dem Handy aufgenommen hat? Entweder leben die Sicherheitsstrategen der Verleiher in einer anderen Realität oder sie müssen ihre Budgets verbrauchen – ein anderer Sinn hinter diesen schon fast polizeistaatlichen Methoden gegenüber der freien Presse ist kaum zu erkennen.

Wie weit die Beeinflussung dieser „freien Presse“ geht, sollen zum Schluss ein paar amüsante Anekdoten aus den jüngeren Pressevorführungen verdeutlichen. Wenn man als Filmjournalist etwa in die Kölner Pressevorführung von „The Day after Tomorrow“ (Fox) kam, betrat man einen völlig überhitzten Kinosaal. Was zunächst wie eine Unachtsamkeit erschien, warf spätestens Fragen auf, als während des Eiszeitfilm-Verlaufs die Klimaanlage im Saal mehr und mehr auf „cool“ gestellt wurde und zum Ende von Emmerichs Endzeitspektakel dann schon fast eine frostige Atmosphäre vorherrschten. Das mag ein witziges Gimmick für die „normalen“ Zuschauer sein, was man mit solchen „subtilen“ atmosphärischen Schwankungen allerdings bei der zwangsweise unbejackten Presse erreichen will, ist fraglich. Im Dienst der positiven Beeinflussung stehen wohl auch die Veranstaltungen vor den jeweiligen Pressevorführungen. Neben dem Cocktail-Empfang (oft vormittags oder am späten Mittag) sind das vor allem kleine Einführungsvorträge. Die füllen natürlich einerseits die Zeit, bis der letzte Journalist noch seiner raubkopierverdächtigen Habseligkeiten entledigt und gefilzt den Kinosaal betreten hat, andererseits lockern sie die Atmosphäre auf.

Wenn etwa ein Meteorologe die Einführung zu „The Day after Tomorrow“ (Fox) oder irgendein Zweitplazierter Zweitstaffelteilnehmer von „RTL Star Search“ den Film „Shrek 2“ (UIP) mit eigenen Interpretationen einläuten, dann sorgt das bei den anwesenden Journalisten nicht immer für Erheiterung. Die sind nämlich selten zum Spaß im Kino, sondern, weil sie einen Job zu erledigen haben und auch ihr Arbeitstag in der Regel nur acht Stunden lang ist. Und die sind angesichts von Frost im Kinosaal und Frust durch Leibesvisitationen und Sperrfristen ohnehin schon „spannend“ genug.

Stefan Höltgen