Ein Märchen vom Erwachsenwerden

Fragt man nach den Gemeinsamkeiten der Filme des 1995 verstorbenen Filmregisseurs Louis Malle, so muss die Antwort überraschenderweise „ihre Unterschiedlichkeit“ lauten. Malle hat in vielen Ländern gedreht, viele Genres bedient und ist dabei nicht selten stilbildend gewesen. Der Erfolg beim Publikum und den Kritikern ist ihm dabei zumeist sicher gewesen. Nur mit wenigen Ausnahmen, wie seinem 1975 entstandenen Film „Black Moon“, konnten die meisten Zuschauer nichts anfangen. Das sich bis heute bei „Black Moon“ nur ein wenig geändert hat – vielleicht einer der Gründe dafür, dass der Film erst jetzt als DVD in Deutschland erscheint.

„Black Moon“ ist kein Spielfilm im herkömmlichen Sinne. In der Filmografie Malles irgendwo zwischen „Lacombe, Lucien“ und „Pretty Baby“ entstanden, nimmt er sich wie ein eingerissener Splitter aus: eine auf den ersten Blick inkohärente, surreale Erzählung, die jedoch auf den zweiten Blick ihr Potenzial offenbar. „Black Moon“ erzählt die Geschichte von Lily (Catherine Harrison), die in einer dystopischen Welt lebt, wo Krieg zwischen Männern und Frauen herrscht. Zu Beginn des Films sehen wir sie mit ihrem Auto vor den Schergen eines männlichen Erschießungskommandos fliehen. Sie erreicht mit knapper Mühe einen Bauernhof. Dort gehen seltsame Dinge vor sich: Eine Horde nackter Kinder jagt Schweine um das Haus, im Baum hockt ein junger Mann (Joe Dallesandro) und singt Arien von Wagner und im Haus, oben im zweiten Stockwerk, lebt eine alte, bettlegerige Frau (Therese Giehse in ihrer letzten Rolle), die offenbar die Herrin über das Anwesen ist. Ihr treuester Gefährte ist eine riesige Ratte, mit der sie sich unterhält und streitet. Zwischendurch benutzt sie ein Funkgerät, das neben ihrem Bett steht, um mit den Kriegsparteien zu konversieren. Lily beachtet sie zuerst gar nicht, verhöhnt sie dann aber als dumm und hässlich. Das Mädchen bemüht sich jedoch zu verstehen, was um sie herum geschieht und als sie aus dem Fenster blickt und ein Einhorn im Garten sieht, findet sie endlich die Aufmerksamkeit der Alten, die sie davon abhalten will hinunter zu dem Tier zu gehen. Aufhalten kann sie Lily jedoch nicht.

„Black Moon“ ist voller Symbole, Zitate und kultureller Anspielungen. Der Aufbau der Erzählung erinnert an die surrealistischen Filme Luis Buñuels (dessen Tochter Joyce am Drehbuch von „Black Moon“ mitgearbeitet hat), die ebenfalls mehr auf der Bildebene erzählen als einen narrativen Plot zu entwickeln. Märchenmotive vermengen sich mit Fragmenten aus „Alice im Wunderland“, vereint in einem futuristisch-bedrohlichen Science-Fiction-Setting. Doch all die Symboliken, der Kontext der Erzählung und die Zitate finden zusammen in einem Diskurs über das Erwachsenwerden – eine Lesart, die auch bei Lewis Carrols „Alice“-Romanen zu plausiblen Ergebnissen geführt hat. Lily ist eine junge Frau auf der Suche nach ihrer geschlechtlichen und sozialen Identität. Gleich zu Beginn des Films schafft sie es beinahe den männlichen Soldaten zu entkommen, weil diese sie für einen Mann halten. Dann jedoch verrät sie ihr langes Haar – sicherlich kein eindeutiges Geschlechtsmerkmal. Solche entwickelt sie, bzw. werden ihr erst im Haus der Alten zugesprochen. Abschätzig spricht die Greisin über den „kaum vorhandenen“ Busen Lilys und das ausdruckslose Gesicht. Einzig die Beine seien hübsch. Doch am Ende des Films ist es Lily, die der Alten die Brust gibt – was vorher deren Tochter (Alexandra Stewart) getan hat. Dazwischen liegt Lilys Begegnung mit dem Einhorn, die so etwas wie einen Initiationritus darstellt.

Malles Film ist nicht leicht zu goutieren. Man muss sich ihm hingeben und sich auf die filmischen Ebenen, die sonst nur zur Illustration des Plots instrumentalisiert werden, einlassen. Die exzellente Kameraarbeit Sven Nykvists bietet den idealen Eingang für den Zuschauer in die Welt von „Black Moon“. Der spärliche Soundtrack, angereichert mit Wagner’schen Arien (Lily wird gegen Ende, wie zum Zeichen ihre Reife, am Klavier etwas aus Wagners „Tristan und Isolde“ spielen, während die Kinder – nach dem Tod der Alten nun ihre Kinder – dazu singen) schafft eine Atmosphäre, die weltfern und traumhaft wirkt. Die von Malle geschickt eingewobenen kulturellen Querverweise laden überdies dazu ein, in „Black Moon“ das Substrat vieler Märchen-Erzählungen zu sehen: Den Monomythos vom Erwachen der weiblichen Sexualität. Dieses Art von Märchenhaftigkeit ist dann vielleicht doch eine Gemeinsamkeit, die sich „Black Moon“ mit vielen anderen Filmen Louis Malles teilt.

Black Moon
(Frankreich 1975)
Regie: Louis Malle; Buch: Louis Malle, Joyce Buñuel; Produktion: Claude Nejar; Musik: Diego Masson; Kamera: Sven Nykvist; Schnitt: Suzanne Baron
Darsteller: Cathryn Harrison, Therese Giehse, Alexandra Stewart, Joe Dallesandro
Länge: 96 Minuten
Verleih: Kinowelt/Arthaus

Die DVD von Kinowelt/Arthaus

Kinowelt bringt Malles unterschätzten Klassiker als erster auf den deutschen DVD-Markt. Das ist hoch anzurechnen. Die technische Aufarbeitung der DVD ist gelungen. Das Bild ist farbsatt und vermittelt einen guten Eindruck des möglicherweise rauschhaften Kinoerlebnisses Mitte der 1970er Jahre. An Extras sind Interviews mit Malles Sohn und Volker Schlöndorff sowie Trailer des Films beigegeben worden.

Die Ausstattung der DVD im einzelnen:

Bild: 1,66:1 (anamorph)
Sprachen/Ton: Deutsch, Englisch (Stereo Dolby Digital)
Untertitel: Deutsch
FSK: ab 16 Jahren
Erscheinungsdatum: 22.08.2008
Preis: 16,99 Euro

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