Onkel Sy meint es gut mit Dir!

„Privatleben“ ist nichts anderes als jene Sphäre von Raum, von Zeit,
wo ich kein Bild, kein Objekt bin. Verteidigen muss ich mein politisches Recht, Subjekt zu sein.
– Roland Barthes

Menschen, die ihrer Vergangenheit beraubt sind, scheinen die eifrigsten Fotonarren zu sein, zu Hause und in der Fremde.
Jeder, der in der Industriegesellschaft lebt, wird allmählich dazu gezwungen, mit der Vergangenheit zu brechen;
in einigen Ländern aber – etwa in Japan und den Vereinigten Staaten – hat dieser Bruch mit der Vergangenheit ein besonders starkes Trauma ausgelöst.
– Susan Sontag

Fotografieren heißt, sich das fotografierte Objekt aneignen.
Es heißt sich selbst in eine bestimmte Beziehung zur Welt zu setzen, die wie Erkenntnis – und deshalb wie Macht – anmutet.
–Susan Sontag

„Check your smile“ steht über dem Spiegel im Pausenraum. Mit seinem Lächeln sollte Sy Parrish (Robin Williams) keine Probleme haben, ist doch sein Äußeres, sein Habitus das hochkonzentrierte Idealbild des freundlichen Angestellten hinterm Verkaufstresen: korrekte Kleidung, das Haar kein Millimeter zu lang, ein Gesicht, das im Leben nie etwas anderes gezeigt hat als zuvorkommende Freundlichkeit: reine Fassade, im Laufe der Jahre bis ins kleinste Detail perfekt zurecht geschliffen. Sy betreut die Kundschaft des Foto-Express eines gigantischen, eigenartig klinisch-steril wirkenden Supermarktes, der mit seinen überdimensionalen Hinweisschildern schon fast aus Carpenters THEY LIVE (USA 1988) entsprungen sein könnte. Seine Stammkundschaft kennt er beim Namen, von der Adresse ganz zu schweigen. Und er entwickelt deren Fotos mit einer Sorgfalt und technischen Präzision „als wären es die eigenen“.

Nun, letzten Endes sind sie das eigentlich auch, denn Sy Parrish ist einer aus den anonymen Heerscharen von „No-Names“, denen man ausschließlich am Verkaufstresen zu begegnen scheint, die abseits eines gewinnenden Grinsens und einen an Selbstaufopferung grenzendem Kundenservice kein Leben zu führen scheinen: Sy schafft sich seine eigene Welt, seinen eigenen Bilderkanon, mit den Fotografien seiner Kundschaft, von denen er sich heimlich Kopien zieht. Besonders die Familie Lorkin – ganz klassisch Vater, Mutter, Kind – hat es ihm angetan. Deren Fotos dienen ihm als Projektionsfläche eigener Familienwünsche, der Sehnsucht, nach dem kleinen Glück in der kleinsten Zelle der westlichen Industriegesellschaft. Sy schließt sich wortwörtlich in einem immer dichter werdenden Kokon aus fremden Fotografien anderer Leute Familienglücks und seinen eigenen Wunschprojektionen darauf ein. In der Regel, zumindest aber im Genrekino, führt dies zu einer herben Verwechslung von Realität und Fiktion, die nur in die Katastrophe münden kann: Als Sy nach eher ungelenken bis aufdringlichen Versuchen, auch außerhalb der geschäftlichen Beziehungen mit den Lorkins in Kontakt zu treten, bemerkt, dass deren Familienglück nicht das ist, das er sich fotoschnippselhafterweise konstruiert hatte, als er sich dergestalt mit dem äußerst fragilen Charakter seiner eigenen Bilderwelten konfrontiert sieht, beginnt er zu handeln: da nicht sein darf, was auf Fotos nicht sein kann, wandelt sich Sy vom Voyeur zum Regisseur seiner heilen Welt und lässt jede Grenze von Privat- und Intimsphäre weit hinter sich.

Mark Romanek weiß schon allein aufgrund seiner langjährigen Tätigkeiten als Videoclip-Regisseur um die ambivalenten Verlockungen künstlicher Bilderwelten und deren manipulativer Wirkungsweisen. So zieht er alle Register seines Könnens und inszeniert eine an und für sich stark voraussehbare und unter denkbar klischeehaften Bedingungen stattfindende Erzählung als beklemmenden, minutiös vorgehenden Suspense-Thriller, dem es letzten Endes gar nicht auf das schlussendliche Resultat – der Film wird eh aus der Perspektive der Rückblende aufgerollt – oder gar auf möglichst schockierende Bilder ankommt, der es lieber vorzieht, seinen Schrecken im Kopf des Zuschauers ob der steten Erwartung Schlimmeres entstehen zu lassen. Es gelingt dem Film ganz vorzüglich, Sys Aufmerksamkeiten – hier mal eine geschenkte Einweg-Kamera, dort ein extra herbeigerufener Computer-Fachmann für Sachfragen – von Anfang an aus dem Blickwinkel des Bizarren erscheinen zu lassen, jede Nettigkeit, jede Fürsorglichkeit als Grenzüberschreitung, die doch nur der Zuschauer als solche empfindet, zu zeichnen. Das, was man als Kunde in einem Laden erwartet – Freundlichkeit, Höflichkeit, ein offenes Ohr für alle Anliegen und obendrein noch etwas Honig um den Bart -, das was uns also als letzen Endes Geschröpfte das Gefühl gibt, dennoch als König Kunde den Laden zu verlassen, wird mit erschreckend wenig Aufwand ins Erschreckende umgedeutet und um tief morbide Nuancen jenseits der Oberflächlichkeit erweitert. Dass der Film hierbei nie ins Dämonische abgleitet, auch zum Zeitpunkt der finalen Katastrophe nicht, mag für manche Genrefans ein Manko sein, unterstreicht aber nochmals die Qualität des zugrunde liegenden Konzepts, Böses – nicht „das Böse“ – hinter der Fassade des „unsagbar Guten“ entstehen zu lassen, das selbst noch im Moment der größten Auflösung persönlicher Integritäten einzig und allein die Wahrung ins Absolute gesetzter „family values“ beabsichtigt. Gerade das macht ONE HOUR PHOTO (USA 2002) in all seiner rigiden Ökonomie der Reduktion so erschreckend und beklemmend.

Die Besetzung mit Robin Williams als Sy Parrish entpuppt sich hierbei als wahrer Glücksgriff für den Film. Denn genau betrachtet ist Robin Williams eigentlich gar nicht so viel anders als in jenen Filmen, denen er seinen Ruf als „ewiger Gutling“ verdankt. Hier wie dort sucht er nach Harmonie und privatem Glück, träumt davon, dass sich die Welt ein klein wenig bessern könnte. In ONE HOUR PHOTO wird dieser Diskurs der naiven Gutmenschlerei indes um eine erschreckende Nuance erweitert, die vor allem im altbekannten Lächeln von Robin Williams, das stets doch nur das Gute will und sich schon längst von den einzelnen Filmen als eigenes Zeichen abstrahiert hat, ihre größte Wirkung entfaltet. Hier ist er also, der Peter Pan, der BI-CENTENNIAL MAN (USA 1999), der Familienpappa aus JUMANJI (USA 1995), und er meint es doch nur gut mit Dir.

Der Diskurs um das Wesen und der Glücksversprechen der Fotografie bietet sich zudem an. Ganze Passagen aus Sys Off-Kommentar, der den Film immer wieder begleitet, scheinen wortwörtlich aus „In Platos Höhle“ (Susan Sontag) oder „Die helle Kammer – Bemerkungen zur Photographie“ (Roland Barthes) entnommen, der Film selbst funktioniert über weite Strecken als anschauliche Illustrationen der Theoreme beider Denker. So reflektiert der Film die Fotografie als einerseits eindeutig militärisch, andererseits aber auch als in sich zutiefst ambivalente Möglichkeit der Wahrheitsdeutung des „So-gewesenen“, und verweist – etwa wenn Sy auf einem Flohmarkt das verknitterte Bild einer Frau ersteht und dieses fortan als Bild der eigenen Mutter im Geldbeutel mit sich führt – ständig darauf, dass nicht das Bild eine Geschichte erzählt, sondern erst der Betrachter diese in das Bild legt. Diese süße Verlockung der Fotografie, ihrem Charme des Authentischen zu erlegen, den Referenten eines Fotos mit seinem Abbild zu verwechseln, beides gar für kongruent zu erklären, diese Verlockung wird im Film als fast schon unwiderstehliche gezeichnet: obwohl Sy zu Beginn noch aus dem Off darauf hinweist, dass ein Blick in ein Familienalbum das Leben nur als Abfolge von Höhepunkten größtmöglichen privaten Glücks widergibt, da keiner Fotografien dessen, was er lieber vergessen möchte, aufbewahrt, erliegt er der Falle dieser Bilderwelten ohne größeren Widerstand.

ONE HOUR PHOTO ist ein bedächtig langsam und intelligent inszenierter Psycho-Thriller, der vor allem durch seine auf allen Ebenen – Charakterisierung, Erzählung, musikalische Untermalung, Schnitte – greifende Reduktion brilliert. Eigenartig leer und ausgewaschen wirkt die bewusst künstlich gehaltene Welt dieses Filmes. Zwar mag diese Reduktion nicht jedermanns Sache sein, wer sich diesem doch recht eigenen Konzept jedoch zu öffnen vermag, wird mit einem der im besten Sinne des Wortes unbehaglichsten Filme der letzten Zeit belohnt.

One Hour Photo
USA 2002
Regie und Drehbuch: Mark Romanek
Kamera: Jeff Cronenweth
Schnitt: Jeffrey Ford
Musik: Reinhold Heil, Johnny Klimek
Darsteller: Robin Williams, Connie Nielsen, Michael Vartan,
Dylan Smith, Erin Daniels, u.a.

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