Der weite Weg vom Seher zum Hörer

Als 1995 Joseph Vilsmairs Film „Schlafes Bruder“ als Adaption des gleichnamigen literarischen Überraschungserfolgs von Robert Schneider erschien, keimte die Hoffnung, das Projekt des Neuen Deutschen Films sei doch noch nicht begraben worden. Sehr ähnelt Vilsmairs Film in Plot und Bild jenen Werken der alten jungen Filmbewegung, die mit Rainer Werner Fassbinders Tod 1982 beendet zu sein schien. Viele der ehemals modernen Themen finden sich sich in „Schlafes Bruder“: der Einsame, Unverstandene (Elias), der sich gegen die Gemeinschaft stellt, Queer-Themen (die Homosexualität Peters), die Destruktion überkommener Heimatfilm-Werte (die Dreckigkeit und Sumpfigkeit des Bergdorfes Eschbach) bis hin zum Verzweifeln an einer Liebesbeziehung als Ausgangspunkt sozialen Aufbegehrens.


Erzählt wird die Geschichte des Wunderknaben Elias (André Eisermann), der Anfang des 19. Jahrhunderts im bayrischen Bergdorf Eschbach aufwächst. Elias verfügt über das absolute Gehör, was ihn bereits als Kind zu einem Sonderling und gemiedenen Außenseiter stempelt. Einzig Peter (Ben Becker) glaubt an ihn und verliebt sich in Elias über die Jahre. Bald erlernt Elias autodidaktisch in der Dorfkirche das Orgelspiel und findet damit zu einer ganz eigenen Sprache. Als er zu einem jungen Mann heranwächst wird das Thema Liebe für ihn bestimmend. Er verliebt sich unsterblich in Elsbeth (Dana Vávrová), die jedoch dem Bauernsohn Lukas (Detlef Bothe) versprochen ist. Damit bricht für Elias, der mit seinem Orgelspiel gerade musikalische Höhen erreicht hat, eine Welt zusammen. Er beschließt, seinem Leben durch Schlafentzug ein Ende zu setzen.

Vieles in „Schlafes Bruder“ erinnert vor allem an den Stil Werner Herzogs. Angefangen beim Sujet des aufbegehrenden Einsamen, der schließlich scheitert – sozusagen einem Herzog’schen Leitmotiv – über die radikale Heimatfilm-Destruktion, wie sie aus Filmen wie „Herz aus Glas“ (D 1984) bekannt ist, bis hin zu einer bestimmten Form der Mystik, die sich in den Bildern und der Musik wiederfinden lässt. Der Film setzt in seiner naturalistischen Umsetzung vollständig auf die Tradition. Daneben fungiert er als Bindeglied. „Schlafes Bruder“ zeigt in Nebenrollen Darsteller, die eben durch jenen Neuen Deutschen Film bekannt und groß geworden sind, etwa Eva Matthes, Herzog- und Fassbinder-Mimin, oder Lena Stolze, die ihre Karriere mit Michael Hanekes „Lemminge (Ö 1976) begann und dann vor allem durch Michael Verhoevens Filme „Die weiße Rose“ (D 1982) bekannt geworden ist.

Und auch der Stoff selbst kann als Fortsetzung jener Erzähltradition gelesen werden. Robert Schneiders postmoderner Roman über die Genie-Thematik im Kontrast zum Nicht-Genialen, Einfachen, Bodenständigen. Schneider wie Vilsmaier „betonen“ das Hören ihres Protagonisten als ausgewiesen empfindlichen Sinn in einer Zeit, in der der Primat des Visuellen längst allgegenwärtig ist. Dass Elias hören kann, was andere nicht hören, erscheint wie eine Spur zu Herzogs „Herz aus Glas“ in der der homophon benannte Hias sehen kann, was sonst keiner sieht. Und beide sinnlich-empfindlichen Außenseiter ereilt das Schicksal, dass sie als „übernatürlich begabt“ aus der Kultur ausgegrenzt werden und sterben müssen.

Leider ist Vilsmairs Ruf an die Tradition „überhört“, sein Film – trotz aller nationalen wie internationalen Bewunderung – „übersehen“ worden. Die Fortschreibung der Tradition ist mit „Schlafes Bruder“ nicht gelungen. Zu sehr waren zeitgenössische Produktionen, wie Sönke Wortmanns „Der bewegte Mann“ (D 1994) schon in den Köpfen und Kassen der deutschen Produzenten festgesetzt. Das politische und visionäre Kino aus Deutschland findet seitdem nicht mehr in einer Bewegung statt, sondern immer wieder einmal in einzelnen Produktionen. Für die Liebhaber des Kinos, das mit den Vätern abrechnen wollte, kann „Schlafes Bruder“ als etwas Ähnliches wie ein Revolutionsdenkmal gesehen werden.

Schlafes Bruder
(D 1995)
Regie & Kamera: Joseph Vilsmair
Buch: Robert Schneider, Musik: Norbert Jürgen Schneider & Hubert von Goisern, Schnitt: Alexander Berner
Darsteller: André Eisermann, Dana Vávrová, Ben Becker, Jochen Nickel, Jürgen Schornagel u. a.
Länge: 127 Minuten
Verleih: Kinowelt


Die DVD von Kinowelt

Als Referenz für die Kinowelt-DVD kann sicherlich die PAL-Plus-Laserdisc, die Starlight Video bereits 1999 veröffentlichte, gelten. Bild und Ton der Kinowelt-Scheibe sind damit durchaus zu vergleichen.

Die Sonderausstattung ist – wohl zu Gunsten der geringen Kompressionsstufe des Hauptfilms – dementsprechend mager ausgefallen. Neben einer Bildergalerie und dem Trailer des Film befindet sich ein „Making of“ auf der DVD. Das erstaunliche an dieser Dokumentation ist, dass sie wie ein Magnet an der Genialität der Autoren des Films, Schneider und Vilsmair, haftet, ganz so, als wollte sie das Sujet aus Schlafes Bruder im Produktionsprozess von Film und Buch wiederfinden. Jedoch stellt sich bald heraus, dass Schneider nur wenig zu dem Film beizutragen hat (außer den üblichen „Übersetzungsproblemen“ vom Buch zum Film und Vilsmair sogar mehr oder weniger erstaunt über die Qualität des Filmes ist, ganz so, als habe er gar nicht damit gerechnet, dass er „so etwas kann“.

Die Ausstattung der DVD im Einzelnen:

# Bild: 2,35:1 (16:9 anamorph)
# Sprachen/Ton: Deutsch Dolby Surround
# Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte
# Extras: Trailer, Fotogalerie, Schlafes Bruder – Die Entstehungsgeschichte eines außergewöhnlichen Films

Preis: 14,99 Euro

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Stefan Höltgen

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