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Philosophie und Science Fiction ...

... verband schon immer ein produktives Verhältnis. Autoren, wie Philip K. Dick, Frank Herbert oder Stanislav Lem nutzten den reichen Fundus offener Fragen der Metaphysik, Ethik und Ontologie, um ihren Stoffen Tiefe zu verleihen. Man denke nur an Dicks Roman Do Androids dream of electronic sheep? (1982 von Ridley Scott zu Blade Runner adaptiert), in dem keine geringeren Fragen aufgeworfen werden, als die nach Freiheit, Gott und Unsterblichkeit. Aber nicht nur die SF nutzt die Fragen der Philosophie, sondern die Philosophie nimmt sich der Methoden und Themen der Science Fiction an. Beispiele dafür sind Philosophen wie Platon, der (schon ca. 2330 Jahr vor 1984) in der Politeia einen kompletten utopischen Staat entwirft, Ernst Bloch, der im Prinzip Hoffnung eine Überwindung jeglicher Entfremdung als Zielpunkt der Utopie proklamiert oder der Sozialphilosoph Karl Manheim, welcher in Utopie und Ideologie sogar soweit geht, der Utopie die Kraft zuzuschreiben, welche erst Veränderungen auslöst.
Diese Beziehung findet sich natürlich auch und gerade im utopischen Film wieder. Eine Unterform des utopischen Films bildet die Dystopie. Sie beschreibt die Elendsviertel des (noch) “Nicht-Ortes” (so die Übersetzung von u–topia). Die Dystopie hat - gerade nach den Erfahrungen des zweiten Weltkrieges und nach dem Abwurf der ersten Atombomben - in Qualität und Quantität die Utopie abgelöst. Unzählige Romane und Filme sind seither erschienen, die sich mit dem Ende beschäftigen; dem Ende der Zeit, dem Ende der Welt, dem Ende der Menschheit, dem Ende des Sozialen, dem Ende des Individuellen, dem Ende der Freiheit.
Seit Beginn der 90er Jahre haben die dystopischen Filme eine neue Qualität gewonnen. Waren ihre Erzählungen in den 50er bis 70er Jahren noch zum größten Teil als ideologisch-politische Parabeln zu dechiffrieren, so musste die Dystopie seit der Auflösung der “sozialistischen Alternative” mit einer eigenartigen Diffusion ins Unpolitische zurechtkommen.
Den Höhepunkt dieser Entwicklung bilden Filme, die ein neues Feindbild zu identifizieren versuchen. Dieses liegt entweder - wenn sie ganz platt sind - im nahen (Emmerichs Stargate) oder im fernen Osten (wiederum Emmerich mit Independence Day, in dem so auffällig gar keine Ostasiaten an der Befreiung der bedrohten Welt mitwirken), sie vermuten es in der Mikrobiologie (Petersens Outbreak, Garris‘ The Stand, Napolitanos Virus) oder in der Makrosoziologie (als Gewalt und Korruption in Verhoevens Robocop oder als Entfremdung in Cronenbergs Crash [s. S. 11 f.]).
Eine der interessantesten Projektionen dieser Art hat sich auf den Widerspruch Realität-Virtualität verlegt: Die eine Seite dieses Subsubgenres zählt noch eher zum klassischen Thriller, wie Thrillkill (D’Andrea von 1983!), Johnny Mnemonic (Robert Longo, 1995), Das Netz (Irvin Winkler, 1995). Die andere verlagert ihre Visionen in weit umfassendere, weit metaphysischere Gegenden. Zwei der beeindruckendsten Beispiele der letzteren Kategorie sind Alex Proyas Dark City (1996) und Die Matrix (1999) von den Wachowski-Brothers.
Dark City beschreibt einen Feldversuch von Außerirdischen, die eine komplette Stadt in den Weltraum entführt haben und deren Einwohner nun in ewiger Nacht zu leben zwingen. Diese merken jedoch nichts von ihrem Unglück, weil sie im zwölfstündigen Rhythmus auch “geistig umnachtet” werden. Während einer allgemeinen Zwangsruhe implantieren die Außerirdischen ihnen neue Erinnerungen und verändern die gesamte “Physiologie” der Stadt. Wenn deren Bewohner kurze Zeit darauf wieder erwachen, kommt ihnen nichts verändert vor. Sie erinnern sich daran, dass alles seine Richtigkeit hat. Einer jedoch stößt auf einen Fehler. Er findet in seiner Erinnerung einen Ort, an dem er als Kind gewesen sein soll, kann sich aber weder erinnern, wo dieser Ort ist, noch wie man dorthin gelangt. Er beginnt zu recherchieren und stellt bald fest, dass sich niemand an den Weg zu diesem Ort erinnern kann. Die Außerirdischen werden auf ihn aufmerksam und so beginnt ein Kampf der Befreiung, der letzten Endes von unserem Helden (ohne fremde Hilfe) gewonnen wird.
Die Matrix beschreibt eine ähnliche, wenngleich auch gegenteilige Situation. Die Menschen leben in vollständiger Freiheit und alles ähnelt der Existenz, wie wir sie in den 90er Jahren führen. Es gibt jedoch auch in dieser Welt eine Verschwörung, die kaum jemand bemerkt: Nichts ist real. Die Welt in Die Matrix ist eine implantierte Imagination, welche Maschinen ersonnen haben. Die Erde ist in Wirklichkeit ein unbewohnbarer Ort, an dem die Maschinen die Kontrolle haben. Menschen werden als lebende Batterien hergestellt, verbraucht und entsorgt. Auch hier tritt bald “der Eine” (Neo sein Name, ein Anagramm zu “One”) in Aktion, als Anführer einer Untergrundorganisation, die es geschafft hat, sich aus der künstlichen Dauerhalluzination zu befreien.
Die Matrix nutzt dabei mit Hilfe modernster CGI-Verfahren die Sehgewohnheiten des Kinozuschauers aus, um die Sphären der Imagination und der Realität miteinander zu mischen und wieder voneinander zu trennen. Oft erscheint die Ästhetik des Films selbst wie ein Traum, in dem sich die Helden in jede beliebige Richtung mit jeder beliebigen Geschwindigkeit bewegen können. Die Matrix propagiert auch eine völlig neue Ebene der ästhetisierten Gewalt, indem sie die Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen Realität und Imagination der Protagonisten auf den Film überträgt und es z. B. nicht selten zu herrlichem “Goldregen” umhersprotzender Patronenhülsen kommt.
Beiden Filmen gemeinsam ist das verwirrende Spiel mit Realität und Fiktion. Nicht nur, dass sie es schaffen, die extrem komplexen Handlungsverläufe so klar zu strukturieren, dass der Kinozuschauer immer gleichviel “wenig” weiß, sie verdoppeln dadurch auch die Situation, in der er sich befindet. Auch der Zuschauer befindet sich in der Dunkelheit (zusammen mit allen anderen, die dasselbe wie er erleben) und auch er bekommt Illusionen unter dem Deckmantel der Wirklichkeit “verkauft” (ebenfalls von einer Maschine, die vorgibt, wie schnell er was sehen soll).
Die Dystopie beider Filme zehrt von der Unsicherheit gegenüber neuen Medien, wie dem Internet, der rasant verlaufenden Entwicklung der Mikroelektronik und nicht zuletzt dem fortschreitenden Verlust der Identität in einer Gesellschaft, in der gerade dieses Verlangen nach Identität zur Uniform geworden zu sein scheint. Dass in beiden Filmen eine Erlöser-Figur die Rettung bringt, wirkt nicht nur karikaturhaft, sondern wird auch durch das offene Ende beider Filme relativiert.
In beiden Filmen tritt der Kampf gegen eine fürchterliche utopische Realität hinter das Projekt zurück, mit der irrealen Alternative dieser Utopie zu leben. Das, was jeder berufstätige Philosoph zu vermeiden versucht, in die Solipsismusfalle zu tappen (die Falle, in der er nichts anderes außer sich selbst als wahr anerkennt), wird gerade in Die Matrix zu einem das Soziale stiftenden Gemeinschaftsprinzip: Jeder imaginiert die Gesellschaft, in der nur er (weil er es ist, der sie imaginiert) real ist und in der keine seiner Handlungen damit irgendeine Konsequenz hat; das ist bequem und ungefährlich.
Die Paranoia in Dark City hat dadurch, dass es Lebewesen sind, die die Menschheit kontrollieren, nicht wesentlich politischere Ausmaße als die in Die Matrix. Die Grundannahme, sich in einer fremdgesteuerten Virtualität gefangengeborgen zu finden, ist dieselbe. Wie sehr sie dem Cyberspace aus Die Matrix ähnelt, erfahren wir in den Szenen, in denen die ganze Stadt morpht und so Nacht für Nacht ihre Gestalt wandelt (auch hier wirken die Spezialeffekte durch den Einsatz von Computergrafik so real!).
So unterschiedlich die Settings von Filmen wie Die Matrix, Dark City oder Cronenbergs eXistenZ (1999) auch sein mögen, spiegeln sie doch ganz eindeutig das Zeitgefühl des ausgehenden 2. Jahrtausends wider, in dem Virtualität und Computer die Macht haben, den Untergang der Menschheit einzuläuten; zwar nicht dadurch, dass sie uns versklaven oder unsere Realität bis ins surrealistische verzerren, sondern vielleicht schlicht dadurch, dass am 1.1.2000 die Computer der Börsen in Frankfurt, New York und Tokyo die Kurse vom Januar 1900 anzuzeigen versuchen, die Herz-Lungen-Maschinen der Intensivstationen die Funktion quittieren, das computer-timer-gesteuerte Garagentor nicht mehr aufgeht oder das Tamacochi nicht mehr aus seinem digitalen Grab “hochfährt” …


[Stefan Höltgen]