Armageddon

Untergangsvisionen

Dunkelheit greift unmerklich um sich! Alles starrt wie gebannt in dieselbe Richtung. In die Richtung aus der das Ereignis erwartet wird. Es dauert nur Sekunden und das Licht ist ganz verloschen. Am heillichten Tag ist es finster wie in der Nacht. Das Ereignis ist vorhersagbar und dennoch übt es immer wieder dieselbe Faszination auf die Menschen aus. Alle, die daran teilhaben, wissen, dass sie danach nicht mehr dieselben sein werden.
Nur noch wenige Augenblicke, dann ist es stockfinster. Es wird stiller und stiller. Eigenartige Lichtblitze erscheinen im Gesichtsfeld. Wie immer dauert es lange Sekunden, bis sich die Augen vollständig an die optisch neue Situation gewöhnt haben. Dann wird es ganz unvermutet und blitzartig wieder heller. Die ersten Bilder werden sichtbar; der Film beginnt.
Tatsächlich ist Kino – gerade wenn man sich die Extravaganz leistet, es tagsüber zu besuchen – ein wenig wie eine Sonnenfinsternis. Ein Ereignis, das passiert, ohne dass einer der Zusehenden Einfluss darauf nehmen könnte. Eines der Ereignisse, die auch dann ablaufen, wenn man ihnen keine Aufmerksamkeit schenkt. Es lebt davon, dass es die realen Bilder ausblendet und die Arena frei gibt für die Imagination.
Und so hat auch eine Sonnenfinsternis verdächtige Ähnlichkeit mit einer Filmvorführung im Kino. Das, was normal ist – nämlich die Helligkeit -, wird gegen die Dunkelheit getauscht. Das Licht geht aus, ganz so, als schöbe sich eine Verschlusskappe vor das Objektiv oder als schlösse sich eine Blende. Und auch auf der Zuschauerseite haben beide Ereignisse Auswirkungen, die vergleichbar sind: gebanntes Starren, Faszination, das Gefühl, etwas “ganz anderes” mitzuerleben. Wenn es am Himmel dunkel wird, dann ist es Zeit für die Imagination, die Bilder neu entstehen zu lassen. Es ist nicht verwunderlich, dass Sonnenfinsternisse als das Ende der Welt angesehen wurden, zu einer Zeit, als der Tag noch nicht mit Hilfe der elektrischen Lichter auf 24 Stunden aufgebläht werden konnte. Doch auch heute hat die Sonnenfinsternis noch nichts von ihrer theatralischen - ihrer kinematografischen - Faszination eingebüßt.
Als im vergangenen Jahr russische Astronauten vom Weltraum aus einen Spiegel auf ihre in die Nacht getauchte Heimat richteten, der das Sonnenlicht zurückbrachte, schien ein von Menschen gemachtes Gegenereignis zur Sonnenfinsternis ins Leben gerufen worden zu sein. Dass man seither weder mehr von dem Experiment gehört hat, noch von dessen potentieller Nutzung (zuallererst fielen da ökonomische Zwecke ein - z. B. derjenigen, die einen verlängerten Arbeitstag darin erkannten) mag Bestätigung für eine noch immer latent vorhandene (Ehr-)Furcht vor dem natürlichen Rhythmus von Licht und Dunkelheit sein. In ihr liegt dann wohl auch der wahre Schreck, der sich mit einer Sonnenfinsternis verbindet.
Daher ist es gut, dass wir uns alle auf die Sonnenfinsternis, die am 11. August stattfand vorbereiten konnten. Aus rein wissenschaftlichem oder zumindest aufgeklärtem Interesse beobachteten die Menschen mit ihren Schutzbrillen den völlig wolkenbedeckten Himmel. Kein irrationaler Gedanke, keine subversive Angst schob sich in das Bewusstsein der “SoFi”-Fans ... ?
Die Esoterik hat das Ereignis zum Anlass genommen ihre Untergangsprophetien zu konkretisieren. Ein Vorbote war für sie die sich verdunkelnde Sonne! Und ein Datum für den Untergang hatten sie auch schon: den 31.12.1999. Das jüngste Gericht, Armageddon, Doomsday, ...
Doch wir als an die Dunkelheit gewöhnte Kinozuschauer sehen dem Untergang gelassen entgegen. Wir haben geübt, uns auf den End of Days vorbereitet, jedesmal, wenn das Licht für 90 oder mehr Minuten verschwindet. Diejenigen, die weder das Kino noch die Sonnenfinsternis hatten, müssen sich mit den kommenden Seiten begnügen, auf denen wir das Ereignis, welches sich als das letzte ausgibt, für sie aufbereitet haben.


[Stefan Höltgen]