Blood and Guts

Gewalt und Horror im Film

Als das Kinopublikum 1928 unvermutet mit einer Szene konfrontiert wurde, in der einer Frau eine Rasierklinge den Augapfel zerschnitt, schien sich dieser Schnitt im Auge des Rezipienten auf eigentümliche Weise zu wiederholen. Gewalt existierte schon vor Louis Buñuels und Salvador Dalís Un chien andalou (1928) im Film, doch war sie eher struktureller Natur. Die neue Explizitheit des abgebildeten Grauens eröffnete eine Genealogie, welche einerseits ein hochspezialisiertes Filmproduktionsgewerbe schuf und andererseits das Kinopublikum und die Kritik so erfolgreich spaltete, wie kaum ein zweites Metagenre.
Und auch heute noch hat der Gewaltfilm - häufig zu finden als Horror-, Splatter- oder Actionfilm - sein ganz spezielles Publikum. Meist sind es Jugendliche, derentwegen Filme wie Scream (1996), I know what you did last summer (1997) oder Urban Legends (1998) überhaupt von größeren Studios produziert werden. Die Kritik beurteilt diese Filme fast einhellig als Ausschuss. Doch gerade im modernen Horrorfilm finden sich von den Erzählstrategien über Spezialeffekte bis hin zum Soundtrack die “Reinform” filmischen Erzählens. Konzentrieren wir uns also ein wenig auf dieses Genre.
Nirgends in der Filmlandschaft zeigt sich Gewalt derart unverschlüsselt wie hier. Angefangen bei Hershell Gordon Lewis und seinen Low-Budget-Klassikern, wie 2000 Maniacs (1964), erlebte der Horrorfilm (und dessen Ableger Splatter-und Slasherfilm) seine Bluttaufe in den 60er Jahren. Es dauerte jedoch weitere zehn Jahre, bis sich auch der typische Kult einstellte, der diese Filme bis heute begleitet. 1973 wurde von Tobe Hooper mit The Texas Chainsaw Massacre die Ära des Gewaltfilms endgültig eingeläutet. Mit der Popularisierung des Videomarktes Ende der Siebziger Jahre überfluteten die Streifen - allzu häufig Billigproduktionen - den Markt und bestritten (mit den Pornofilmen) den Hauptteil der Einnahmen dieses neuen Mediums.
Den eindeutigen Höhepunkt, sowohl quantitativ als auch qualitativ, erreichte der Horrorfilm in den Achtziger Jahren. Friday the 13th (1980), Evil Dead (1984), A nightmare on Elmstreet (1984), Hellraiser (1987) und Die Fliege (1986) sind nur einige der damals populären Titel. Zu dieser Zeit etablierten sich spezielle “Horrorfilmregisseure”: George A. Romero, David Cronenberg, Dario Argento, Wes Craven, Stuart Gordon, Peter Jackson oder Clive Barker. Heute werden diese Namen nicht mehr ausschließlich mit Blut- und Beuschel-Filmen in Zusammenhang gebracht.
Der Horrorfilm lebte davon, seine Darstellungsformen ständig zu überholen. Mehr Spannung, mehr Thrill aber vor allem mehr Gewalt musste ein neuer Film gegenüber seinen Vorläufern bieten, um das Publikum anzulocken. Ein treffendes Beispiel hierfür ist die Zombie-Trilogie George A. Romeros: Der 1968 gedrehte Night of the living Dead fesselte das Publikum noch hauptsächlich mit seiner Schwarz-Weiß-Ästhetik, dem Schattenspiel und der Dunkelheit. In der Kritik wurden die jedoch auch bereits dort auftauchenden expliziten Gewaltszenen - z. B. der Mord eines Mädchens an seiner Mutter - als unnötig und zu grausam hingestellt. Doch gerade diese Szenen wiesen voraus: Die Zahl der Untoten, die sich in Night of the living Dead noch auf circa hundert bezifferte und die unverhältnismäßige Gewalt der Lebenden als viel grausamer entlarvte, wuchs im Sequel Dawn of the Dead (1979) auf mehrere Millionen. Im zweiten Teil der Saga schien nunmehr jedes Mittel recht, den menschenfressenden Zombies Einhalt zu gebieten. Mitleid und Unglauben fand sich allenfalls auf der Seite der Protagonisten, die den Untoten schon bald als nahrhafte Opfer dienten. Tom Savinis Splatter-Effekte offenbarten in Dawn of the Dead Details, die nur schwer zu verdauen und
zu überbieten waren und die die deutschen Zensoren dazu brachte die 138-minütige Originalfassung auf 99 Minuten heruntergeschnitten. Jedoch schien auch dies nicht genug und der Film wurde kurzerhand ganz verboten.
Das gleiche Schicksal ereilte den dritten Teil Day of the Dead (1988). In ihm kämpften eine Hand voll Menschen gegen eine Welt voller Untoter. Die Gewalt gegenüber den Zombies ist hier zum selbstverständlichen Bestandteil der Handlung geraten und reiht sich nahtlos in den Rhythmus der Erzählung ein, welche nur noch dann ins Stocken gerät, wenn es einmal einen der Nicht-Untoten erwischt. Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass eher die Trauer über die dahinschwindende menschliche Rasse als das Mitleid an der einzelnen Person Empathie beim Rezipienten erzeugen soll. In einem furiosen Showdown erobern die Zombies dann die letzte Bastion und begehen noch eine “gerechte” Bluttat: Ein im Film als Bösewicht konstruierter Charakter wird in der Mitte zerrissen und lebendig gefressen - in nahezu endoskopischen Detailaufnahmen.
Mit der zunehmenden Gewalttätigkeit der Filme, die sich irgendwann einfach nicht mehr steigern ließ, rückte die Erzählung weiter vom Geschehen ab. Die Szenen aus A Clockwork Orange (1973), nehmen sich heute im Kontrast zu Natural Born Killers (1994) oder Pulp Fiction (1994) eher harmlos aus. Damals schockierte Stanley Kubrick damit jedoch das Publikum und musste einige Szenen gar selbst entschärfen, um den Film überhaupt anlaufen lassen zu können.
Je näher das Objektiv an die Gewalt heranrückte, desto mehr schien sich die Erzählung von ihr zu distanzieren, so dass es bald den Anschein erweckte, als interessiere den Autor die Gewalt als narrative Komponente gar nicht mehr; mit der Wirkung, dass die brutalen Szenen fortan völlig kontingent in den Plot eingestreut erschienen. Die Überraschung, als in Pulp Fiction “zufällig” und ohne Absicht ein Mann in den Kopf geschossen wird, entlädt sich beim Rezipienten schockartig (und nicht selten in Form von Lachen über die unerwartete Pointe).
Schon mit Bad Taste (1989) hatte Peter Jackson gezeigt, dass man ab einem bestimmten Grad der Gewaltdarstellung das Gesehene nur noch mit Lachen quittieren kann. Wohlgemerkt: Ein anderes Lachen als das “befreiende Ausagieren einer bedrückend und ins fast unerträgliche inszenierten und montierten Beklemmung” (Schreyer). Es ist die Schadenfreude des Slapstickfilms, die Braindead zum Höhepunkt des modernen Splatterfilms und gleichzeitig zu dessen Ende (Frank Hofmann) macht. Braindead lässt eine Steigerung der darstellenden Gewalt nicht mehr zu.
Eine eher narratologische Reflexion entwickelte Wes Craven in Scream (1997). Der Versuch, die Paradigmen des Genres zum Thema eines Films zu machen, muss jedoch als gescheitert angesehen werden. Zu Ernst nimmt sich der Film und häufig verpuffen die Hommagen zu Plattitüden und Einfältigkeit. Und kaum noch jemand nahm Craven den postmodernistischen Ansatz ab, als er mit Scream 2 (1998) vorgab, den Horrorfilm als Sequelfilm schlechthin zu charakterisieren; ahnte man doch, dass es allein der Erfolg des ersten Teils war, der Craven auf finanziellen Nachschlag hoffen ließ.
Im ausgehenden 20. Jahrhundert findet sich die Gewalt im Film entweder hyper-ästhetisiert, wie bei Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber (1990) von Peter Greenaway oder als komische Einlage wie zum Beispiel bei Quentin Tarantinos “ultrabrutalen” Gangsterfilmen à la Pulp Fiction.
Und weiterhin scheint es so, als habe die Gewalt im Film (abermals) das Medium gewechselt. Die Explizitheit der Darstellung flimmert nun von den Fernsehschirmen. Und hier ist es nicht mehr ausschließlich der Spielfilm, der Gewalttätigkeit zeigt. Die typischen Fernsehsendungen selbst haben sich des Phänomens angenommen. Nachrichten, Reportagen und Dokumentationen vor allem der Privatsender übertragen das, was auf Video in den 80er Jahren unter der Rubrik “Snuff” (Beispiel: Die Gesichter des Todes) boomte: Reale oder zumindest realistische Gewalt.
Der Rezipient scheint das Verlangen nach der gewalttätigen Fiktion hinter sich gelassen zu haben und verlangt nun Authentizität. Doch selbst dieser Diskurs hat bereits seine kritische und ironische Reflexion erfahren: In Mann beißt Hund (1991) wird dem Zuschauer durch eine fiktive Dokumentation über einen Serien-killer bald klar, wer eigentlich die Gewalt produziert: Als die Reporter den Killer zunächst bezahlen, um ihn bei der “Arbeit” filmen zu dürfen, zum Ende des Filmes dann sogar selbst einmal “Hand anlegen” dürfen, scheint die Frage pointiert beantwortet, die Sozialwissenschaftler seit langem beschäftigt: Produziert oder reflektiert Film Gewalt?
Die hierzulande immer noch verbotenen Filme Romeros, Hoopers und anderer nehmen sich auf Grund ihres fantastischen Sujets angesichts solcher Tendenzen harmlos aus. Und es spricht für eine beginnende Auseinandersetzung mit dem Horrorgenre, dass sie mittlerweile wieder in den Videotheken zu bekommen sind. Betrachtet man den Unterschied der Gewaltdarstellung zwischen The Texas Chainsaw Massacre (1973) und Starship Troopers (1998) lässt sich die strafgesetzliche Verfolgung des Ersteren auch nicht mehr rechtfertigen.


[Stefan Höltgen]