Freud'sches Schwindeln

Eine Genderstudie zu Hitchcocks Vertigo

 

Synopse: Der Polizeiinspektor Ferguson quittiert nach einer für seinen Kollegen tödlich ausgehenden Verfolgungsjagd den Polizeidienst. Er fühlt sich für den Unfall seines Kollegen verantwortlich, da dieser bei dem Versuch, Ferguson das Leben zu retten, in den Tod stürzt. Als Folge dieses Ereignisses leidet Ferguson fortan an einer (irreparablen) Akrophobie, einer speziellen Form von Höhenangst. Ferguson wird von einem ehemaligen Schulfreund, Gavin Elster, darum gebeten, seine Ehefrau zu beschatten. Von ihr, Madeleine, habe allem Anschein nach eine Tote Besitz ergriffen. Elster befürchtet, Madeleine könne - entsprechend der Biografie der Toten - Suizid begehen. Ferguson willigt in die Beschattung der Frau ein, nachdem er die Gelegenheit wahrgenommen hat, sie ohne ihr Wissen zu betrachten. Die Akrophobie, an der er leidet, hindert Ferguson jedoch daran, Madeleines zweiten Suizid real abzuwenden - sie stürzt sich von dem Turm einer Klosteranlage. Ferguson wird für einige Zeit in einem Sanatorium kuriert, er leidet laut Aussage eines Arztes an “Schuldgefühlen” sowie “akuter Melancholie”. Ferguson hatte sich im Verlauf seiner Detektivtätigkeit in die äußerst attraktive, mysteriöse Frau seines Schulfreundes verliebt, er scheint über den schmerzlichen Verlust nicht hinwegzukommen.
Aus dem Sanatorium entlassen, lebt Ferguson nur noch in der Vergangenheit, sein Alltag referiert lediglich auf Assoziationen an die verlorene Geliebte. Er trifft eine Unbekannte, die ihn aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit der toten Madeleine magisch anzieht. Der Zuschauer erfährt, dass es sich bei dieser neuen Bekanntschaft, Judy, um genau die totgeglaubte Geliebte handelt, die lediglich als Komplizin im Mordfall an Elsters tatsächlicher Ehefrau fungiert hatte. Sie war ein Abbild Madeleines, die wiederum (inszeniert) lebendiges Abbild der toten Urgroßmutter Carlotta Valdes verkörperte. Judy liebt “Scottie” Ferguson und lässt sich daher relativ gefügig von ihm in die Tote “ummodellieren”. Durch eine kleine Nachlässigkeit Judys erfährt Scottie jedoch, dass er einst nur Werkzeug in einem vorgetäuschten Selbstmord war. Seine Funktion bestand einzig darin, den Selbstmord von Elsters Frau glaubhaft zu bestätigen. Die Enttäuschung über das unaufrichtige Spiel, das Judy mit ihm trieb, lässt seine Liebe zu ihr ersterben. In einer dramatischen Schlusseinstellung kommt Judy infolge eines Missverständnisses durch einen nunmehr realen Sturz vom selben Turm ums Leben.
Scottie besitzt nach dem (für ihn realen Tod) seiner geliebten Madeleine ein gestörtes Verhältnis zu sich und seiner (unwiederbringlichen) Vergangenheit. Er handelt in performativen Akten (Judith Butler), d. h. er konstruiert seine geschlechtliche Identität über zitathafte Wiederholung komplexer Normen in Verhaltensabläufen und sprachlichen Äußerungen. Scottie inszeniert Judy; er realisiert sie als Inbegriff der von ihm geliebten Madeleine. Judy verkörpert nunmehr die Referenz all dessen, das Scottie einst mit Madeleine benannte. Er sichert sich seinen Status als Mann, die Wiederholung der Vergangenheit dient ihm als Mittel solch einer identifikatorischen Praxis. Seine narzisstische Persönlichkeit befiehlt ihm, ohne dass er sich nach eigener Aussage der Ursache seiner Handlungen bewusst ist, den Verlust Madeleines, der als massive Kastrationsangst gedeutet werden kann, durch die Kreation eines Madeleine-Doubles zu kompensieren. Scottie unternimmt den Versuch, sich eine lineare Biografie zu konstruieren. Er kehrt mit Judy an den Punkt seiner schicksalhaften Geschichte zurück, der ihn Madeleine verlieren hieß. Durch Judy sucht er nun den Bruch innerhalb seiner Biografie zu kitten. Mit der Erschaffung eines Madeleine-Duplikats regeneriert Scottie seine erschütterte Ich-Stabilität. Scottie projiziert so sein eigenes Problem auf Judy/Madeleine; er muss das Rätsel dieser Frau(en) lösen, um sein eigenes Leben zu enträtseln. Die Ummodellierung Judys in Madeleine durch Scottie kann im Freudschen Sinn als sublim bezeichnet werden - vordergründig scheint seine künstlerische Umgestaltung Judys nicht notwendig Kraft seines Sexualtriebs erfolgt zu sein. Nachdem jedoch Judy zum Abbild Madeleines geworden ist, spricht Scotties Reaktion für die Annahme einer sublimen Handlungsweise - erst jetzt ist es ihm möglich, sie in einem Gefühl sexuellen Verlangens zu berühren.
Auf den ersten Blick repräsentiert die Figur des Scottie Ferguson eine ausgesprochene “Opferrolle”. Er wurde benutzt, ein williges Werkzeug, das den angeblichen Selbstmord einer Frau in einem Mordkomplott als authentisch zu bestätigen hat. Madeleine stellt für ihn eine Frau im Sinne der Definition Simone de Beauvoirs dar, in der es heißt: “Eine Frau sein bedeutet, unter den Bedingungen der maskulinen Kultur für die Männer eine Quelle des Mysteriums und des Unerkennbaren darzustellen.” Madeleine fasziniert Scottie aufgrund ihrer engelsgleichen, makellosen Schönheit und ob des geheimnisvollen Rätsels, das sie zu umgeben scheint. Ihr Erscheinungsbild weckt in ihm seinen männlichen Beschützerinstinkt, ihre äußeren wie inneren Attribute stützen das Bild einer personifizierten Unschuldigkeit, ein Bild, das Scottie erfolgreich zu blenden vermag.
Scottie ist allerdings auch “Täter” - er annulliert jegliche Differenz zwischen seinem Modell Judy und dem Vorbild Madeleines. Scotties Verhaltensweise lässt an eine Erzählung E. A. Poes erinnern, nach dessen Aussage “der Tod einer schönen Frau fraglos der poetischste Gegenstand der Welt” sei. Das ovale Porträt, eine parabolische Geschichte, erzählt das Schicksal einer jungen Frau, die ihr Leben an die Entstehung ihres eigenen Porträts verliert. Die Erschaffung des Kunstwerks geht auf Kosten des Lebens der Frau - das Bild eignet sich das Leben der jungen Frau an. Das Modell, die perfekte Kunstschönheit, wird getötet.
Judys Existenz wird reduziert auf die eines wesenlosen Objekts in der von Scottie inszenierten Re-Kreation seiner totgeglaubten, geliebten Madeleine. Im symbolischen Sinn bringt Scottie Judy um. Er tötet ihre Identität, ihre Einzigartigkeit. Diese personale Einmaligkeit wird Judy auf der Handlungsebene von Vertigo generell nicht zugestanden. Sie ist formbares Material, williges Werkzeug in den Händen zweier Männer. Gavin Elster modelte sie um zum Abbild seiner Ehefrau, die er zu töten beabsichtigt. Judy doubelt die echte Madeleine, sie ist lebendig gewordene Materialisierung eines Bildes. Scottie reduziert Judy somit zum Objekt seines männlichen Blicks. Scotties Blick ist von Filmbeginn an der eines Voyeurs, der perfekt getarnt und legalisiert wird durch seine Funktion als Detektiv. Der Blick des männlichen Protagonisten Scottie repräsentiert einen Blick des Begehrens auf die Person Madeleines. Das Bild der Frau obliegt der Kontrolle durch den männlichen Blick. Hinter der Maske, der Rolle des Detektivs, kann Scottie diese voyeuristische Neigung ungehindert ausleben. Gleiches wird selbstverständlich dem Rezipienten zugebilligt.
Laura Mulvey entwickelte in ihrem Aufsatz “Visuelle Lust und narratives Kino” einen für Hitchcocks Vertigo psychoanalytisch aufschlussreichen Ansatz. Das Kino bietet jedermann das geeignete Ambiente, die Lust am (Zu-)Schauen angemessen zu bedienen. Dieser nach Freud als Skopophilie bezeichnete Vorgang setzt andere Personen neugierigen und beobachtend-kontrollierenden Blicken aus, unter denen sie zum Objekt statuiert werden.
Ausgehend von voyeuristischen Neigungen im Kindesalter, Gewissheit über errichtete Tabus zu erlangen, wird postuliert, das als Vergnügen empfundene Schauen werde durch Analogie auf andere Menschen übertragen. Dieser aktive Instinkt modifiziere einerseits die Herausbildung des eigenen Ichs, andererseits diene er der Lust, eine andere Person als Objekt zu betrachten, als erotische Prämisse.
Vertigo bedient die Pattern der Skopophilie: Scottie ist der Träger des Blicks, der aktive Part, Judy/Madeleine verkörpert das passive Objekt, das den männlichen Blicken als erotisches Bild dient. Der dominierende männliche Blick Scotties projiziert seine von Madeleine existente Wunschvorstellung auf Judy. Judy trägt in der Rolle der Ehefrau exhibitionistische Züge, ihr Erscheinungsbild dient allein dem Zweck, Scottie durch eindeutige visuelle Reize und eine starke erotische Ausstrahlung für den Beschattungsauftrag zu ködern. Judy wird in ihrer Rolle als Madeleine in zweifacher Ausgestaltung zum Sexualobjekt männlicher Begutachtung reduziert. Budd Boettischer kommentiert die Präsenz der Frau im Film ironisch: “Es kommt darauf an, was die Heroine bewirkt, mehr noch, was sie repräsentiert. Sie ist es, oder vielmehr die Liebe oder Angst, die sie beim Helden auslöst, oder anders, das Interesse, das er für sie empfindet, die ihn so handeln läßt, wie er handelt. Die Frau an sich hat nicht die geringste Bedeutung.”
Die Präsentation der Frau erfolgt in zweifacher Hinsicht: Sie ist erotisches Anschauungsobjekt für ihren männlichen Filmpartner und gleichzeitig erotisches Betrachtungsobjekt für den im Dunkel des Kinoraums verborgenen Zuschauer. Die subjektive Kameraführung Hitchcocks führt zu dem Effekt, dass der männliche Protagonist und der Rezipient des Films ihren Blick aus gleicher Perspektive erfahren. Männlicher Held und Zuschauer eint somit der Prozess, Judy/Madeleine zu einem zum Angeschautwerden verurteilten Bild herabzusetzen.
Vertigo - ein Filmkunstwerk, das aufgrund seiner vollendeten Ästhetik zu einem echten Hitchcock-“Klassiker” avancierte.


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