Der Untergang der Kinokultur

Kuturkritik

I.

Das Kino Schon In der Frühzeit des Kinos gab es die Debatte, ob Kino als Kunst oder Jahrmarktsattraktion gelten soll. Dass die Frage damals nicht eindeutig beantwortet wurde, zeigt sich an der heutigen Kinosituation. Entsprang das Kino damals aus der Theaterkultur, so lässt sich heute eher in der Diskokultur ansiedeln: Wo damals Vorhänge die Leinwand verbargen, Orgelspieler und Orchester die Zuschauer einstimmten und nicht selten der Film persönlich angekündigt wurde, steht heute ein Laserstrahlenteppich im Raum, begleitet von harten Technobeats und eingeführt durch 45 Minuten lange Werbeclips und Trailer. Traurig ist auch die Tatsache, dass die Kinobetreiber meist der Wirtschaftsbranche entstammen und kein cineastisches Feingefühl besitzen. Die Blockbuster laufen acht Wochen im Kino 1, Autorenfilme vielleicht einen Woche im Kino 9 (um 16 Uhr). Der Film selbst wird dabei in den gesamten Rezeptionsvorgang (Musik, Werbung, Trailer, Eis-essen, FILM) so integriert, dass keine unnötige Pause entsteht, und der Zuschauer so schnell wie möglich wieder den Kinosaal verlassen kann. Nicht einmal für den Nachspann ist Zeit, in welchem bereits das Licht angeht. Offizielle Begründung des Filmvorführers: "Der Zuschauer findet im Dunkeln den Weg nicht." Das Kinopersonal kommentiert diese Begründung: "Es gibt wichtige und unwichtige Nachspänne! Nur bei den wichtigen bleibt das Licht aus." Zu den wichtigen zählt offensichtlich A Bug's Life, bei dem während des Nachspanns noch etwas "passiert" (Bilder zu sehen sind), zu den unwichtigen Eyes Wide Shut, in welchem nur "klassisches Gedudel" und "wertlose Produktionsinformationen" vorüberziehen. Fast könnte man glauben, dass einige Regisseure noch wichtige Informationen (Bilder) erst nach dem Nachspann preisgeben (z. B. House on Haunted Hill), um das Fluchtverhalten der Zuschauer zu bestrafen - vergebens. denn diejenigen, die damit bestraft werden sollen, tanzen schon in der Disko eine Etage tiefer. Kinopaläste erinnern in ihrer Architektur tatsächlich an Großraum-Diskotheken. Die Eingangshalle ist so groß wie ein riesiger Bahnhof, irgendwo gibt es eine Bar, wo vor, während oder nach dem Film ein Drink genommen werden kann. Auf Wunsch werden Cola, Popcorn oder Eis auch direkt an den Platz gebracht. Falls ein Filmemacher gegen das ungeschriebene "135-Minuten-Maximallänge"-Gesetz verstößt und seinen Film, z. B. drei Stunden (wieder Eyes Wide Shut) dauern lässt, bieten Vorführer und Verleiher die Möglichkeit einer Pause mitten im Film an, in der neue Cola geholt und alte entsorgt werden kann.

II.

Der Zuschauer Neben diese eher projektionsästhetischen Merkmalen hat sich seit Bestehen des Kinos aber auch das Zuscherverhalten radikal geändert. Fast scheint es, als würde Film gar nicht mehr als (eigenständige) Kunstform wahrgenommen werden, sondern eher als ein Event, das sich in die Architektur der Multiplex-Freizeitanstalt einfügt. Gewöhnt an die schnellen (und schnellebigen) Effekte der MTV-Ästhetik ist es kaum noch möglich, Plansequenzen oder lange Dialogpassagen zu präsentieren, ohne dadurch gleichzeitig die Langeweile des Zuschauers herauszufordern. Dieser ist es gewöhnt, spannende Geschichten (das muss dann schon eine Invasion aus dem Weltall sein) mit schnellen Schnittfolgen, bombastischen Toneffekten und einem furiosen Staraufgebot präsentiert zu bekommen. Das Film darüber hinaus aus wesentlich mehr als der erzählten Geschichte besteht ist nicht nur den meisten unbekannt, sondern interessiert diese schlichtweg nicht. So ist es nicht selten, dass eine ins Film adaptierte Literatur nur noch im Vergleich wahrgenommen werden kann, was oft in der profanen Aussage kulminiert "Der Film (das Buch) war aber besser!" Hier wird der Zuschauer zum Filmkritiker. Seine entmündigte Stellung als zahlender Gast, der sich zu berieseln lassen hat, versucht der Kinogänger so zurückzuerobern. Dabei bleibt er oftmals auf der Produktionsebene stecken: Maximal wird noch der Hauptdarsteller des Films wiedererkannt ("Hat der der nicht auch in .. mitgespielt?") und der Regisseur mit dem Produzenten verwechselt. Das ist nicht schlimm, denn so beginnt jede kinematografische Sozialisation (der "Stareffekt"). Allerdings sollte diese Auseinandersetzung erstens nicht auf der Ebene des Wiedererkennens stehen bleiben und zweites nicht durch Unterhaltungen während der Vorführung geschehen. Oft scheint der Wiedererkennungswert nämlich so intensiv, dass er sich im lauten Denken offenbart. Für jemanden, der in die Diegese eingedrungen ist und den Film genießt, muss ein solches Verhalten einfach störend wirken. Man wird schlicht und ergreifend um das Privileg der ungestörten Erstrezeption gebracht. Nie wieder wird man diesen Film unbelästigt "zum ersten Mal" sehen können. Einzige Alternative für den echten Filmliebhaber sind da die Spätvorstellungen (die beginnen, wenn die Diskotheken bereits voll sind) oder der Film in Originalfassung. Das ist zwar ein Kompromiss, doch wird man auf diese Weise dazu gezwungen, sich die Nächte im Kino um die Ohren zu schlagen. Ganz zu schweigen davon, dass längst nicht jeder Film in der Originalfassung gezeigt wird. Das Kino 1 mit seinen Kritiker-Zuschauern scheint einiges zu diesem Verhalten beizutragen: Dort laufen eben nur die Blockbuster, die um die Zuschauergunst buhlen. Die Vorführungsbedingung (die den Happening-Charakter forcieren) und die Auswahl der "Kracher" ermuntern die Zuschauer geradezu zu solchem den Kunstwerk-Charakter negierendem Verhalten. Die Vorschau auf die "Coming Attractions" wird bewusst so geschnitten, dass die Wiedererkunngsmanie des Zuschauers und sein Verlangen nach Schnell-Schnitt-MTV-Ästhetik gestärkt wird. Diese Trailer sind oft genug die Grundlage seines Filmwissens ("Vom Regisseur von ...") und bestimmt die Auswahl seines nächsten Kinobesuches. Seine Kehrseite fand diese Konzeption jüngst bei Kubricks Eyes Wide Shut, der von vielen entweder als "der neue Tom Cruise-Film" oder gar "Pornofilm mit Cruise, Kidman und Kubrick" erwartet wurde; mit dem Resultat, dass der Film an der Kino- und jetzt auch der Videokasse floppte. Die Erwartungen des Zuschauers konnten von Kubrick nicht erfüllt werden.

III.

Das Kino der Zukunft Wer trägt nun die Schuld an dieser Misere? Bedingt das Zuschauerverhalten die Anpassung der Produktion und Präsentation, weil das Geld des Zuschauers das wichtigste im Kino ist? Oder hat sich der Zuschauer an einfach zu kontrollierende Produktions- und Präsentationsbedingungen sklavisch angepasst; ist sein Verhalten, das sich im Grunde gegen den Film als Kunstform richtet, also nichts anderes als seine Integration in die Multiplex-Ideologie: "Viel hilft viel und Geld regiert die Welt." Die Frage ist müßig, denn das Resultat ist ein und dasselbe: Der Film wird zwangsläufig den Kürzeren dabei ziehen. Das zeigt sich an der geplanten Auflösung des Verleihsystems. In Zukunft sollen alle Filme digital vom Satelliten heruntergeladen werden und erst an der Kinokasse entscheidet sich, ob der Film überhaupt gezeigt wird. Mit Sicherheit bleiben dabei nur die Blockbuster übrig. Diejenigen, die Filme ungestört und jenseits multiplexer Anbiederungen genießen wollen müssen sich schon auf Videos oder DVDs zurückziehen. Das Kino als Traummaschine und Ort kulturellen Geschehens wird ihnen für ihre Ansprüche in absehbarer Zukunft verschlossen bleiben.

[RE & SH]