Um David Lynchs rätselhafte Filme verstehen, einem Werksbegriff subsummieren,
ja gar einem Genre zurechnen zu können, kam schnell der Begriff
postmodern ins Gespräch. Gerade der in den 80er Jahren für
Furore sorgende Blue Velvet (USA 1984) schien dieser Kategorisierung bestens
zu Gesicht zu stehen. Hatte Lynch nun doch nicht mehr modern versucht,
einen ganz neuen Film zu machen, sondern sich intertextueller Werkzeuge
bedient, ein Patchwork filmischer Geschichte(n) zu erstellen. Jener progressive
Akt, so scheint es, ist bei seinem jüngsten Film, The Straight Story (USA
1999) abhanden gekommen, ist er doch ganz und gar nicht mehr postmodern, oder?
Zunächst eine Unterscheidung: Das moderne und das postmoderne Kino sind
leicht zu erkennen. Je drei Beispiele von Steven Spielberg und Tim Burton können
schnell verdeutlichen, worin sich dieser Unterschied zeigt: Duell (USA 1971)
als Thriller, Jaws (USA 1974) als Horrorfilm und Close Encounters of the 3rd
Kind (USA 1977) als Science Fiction gelten nicht ohne Grund als die Belegfilme
für das Genre, dem sie angehören. Nahezu keinerlei auch nur nuancierte
Abweichung von den Genreklischees lassen sich für so ziemlich alle Spielberg-Filme
attestieren. Immer gelten seine Filme als Entdeckung filmischen Neulands,
als der Fortschritt, den sich das moderne Kino auf seine Fahnen geschrieben
hat - und zogen damit auch immer ein gutes Stück Avantgarde in den modernen
Kanon (vor allem die Filme zwischen Schindlers List (1993) und Saving
Private Ryan (1998) künden von der Hoffähigkeit einstmaliger künstlerischer
Tabus und damit der Ent-Avantgardisierung ihrer Stoffe).
Stellen wir diesen drei Beispielen Filme von Tim Burton gegenüber: Beetlejuice
(USA 1988), Edward Scissorhands (USA 1994) und Mars Attacks! (USA 1996). Was
die Erzählung dieser drei Filme betrifft, ist nichts neues darin auszumachen:
Haunted House, Frankenstein und jeder beliebige Space-Invadors-Film der 50er
Jahre. Nun könnte man meinen, dass das dann wohl Parodien seien; sie sind
aber weit mehr: Über die ironischen Anspielungen an einzelne Filme und
die Filmgeschichte (bzw. Genregeschichte) leisten sie eine Art Verdopplung:
Sie nutzen die Anleihen an bekannte Bilder und Genreklischees, um damit spielerisch
auf deren begrenzte Möglichkeiten hinzuweisen und bauen dabei auf das Wissen
der Zuschauer, die eine Mediensozialisation hinter sich haben und wissen, auf
was da angespielt wird. Würde nun eine Parodie das Klischee
allein als Aussage benutzen (Seht her, so funktionierts!),
so geht der postmoderne Film weiter: Er besteht aus dem Klischee und wendet
sich nicht fingerzeigend davon ab.
Aber - um wieder zum Thema zu kommen - wo ist nun David Lynchs vre angesiedelt:
Konnte man von Blue Velvet über die Fernsehserie Twin Peaks (1989-91) bis
Wild at Heart (1994) noch guten Gewissens Lynch einen Postmodernisten
nennen, der sich der Bilder, Genres und Erzählweisen zitierend bedient
(obwohl er auch damals schon mehr tat), ließen sich Twin Peaks - Fire
walk with me (1992) und Lost Highway (1996) schon weit schlechter auf das postmoderne
Mindestmaß reduzieren: Fehlen beiden Filmen doch jegliche Ironie, die
das augenzwinkernde Einordnungskriterium postmodern ausmacht. Stattdessen
zerfallen beide Filme (nebst deren Protagonisten) in zwei separate Teile, die
gruselig, thrillig, miteinander verzahnt, ja verschachtelt, aber auf keinen
Fall ironisch sind.
Es scheint eher so, dass Lynch in beiden Filmen an einer Theorie des Kinos arbeitet
(und nicht etwa allein als Abgrenzung zu bestehenden Erzähltheorien, wie
noch in Blue Velvet und seiner pseudoaffirmativen Kritik an der Psychoanalyse).
Sätze wie, Wir leben in einem Traum (Twin Peaks - Fire walk
with me) oder Fred Madisons Ablehnung von Videokameras mit der Begründung,
Ich erinnere mich an die Dinge lieber auf eigene Art; nicht unbedingt,
wie sie passiert sind. (Lost Highway) und ebenfalls die Präsentation
der Medien in beiden Filmen (In Twin Peaks - Fire walk with me der Fernseher,
in Lost Highway der Videorecorder, die Videokamera, das Telefon, das Heimkino,
) deuten auf dieses neue Interesse Lynchs hin. Und angesichts der unendlichen
Rezipierbarkeit des Films in Form von Video scheint es (narratologisch) nur
konsequent, wenn Lost Highway das Ende der Erzählung als eine Erzählung
ohne Ende offenbart.
Und The Straight Story? Ist das nun doch wieder ein Schritt zurück für
Lynch zum postmodernen Kino oder gar zwei zurück zum ähnlich sentimentalen
Elephant Man (1980)? Ich denke, Lynch führt in The Straight Story das Projekt
von Twin Peaks - Fire walk with me und Lost Highway weiter: Es scheint nun sein
Interesse auf Beispiele verlagert zu haben, und zwar Beispiele aus dem eigenen
Werk: In kritischer Distanz zur Fluchtgeschwindigkeit vom Road Movie
Wild at Heart und dem Endlostrip aus der Schlusssequenz von Lost Highway lässt
er seinen Protagonisten langsamer fahren als andere gehen würden. Und auf
seiner Reise passiert er so einige Orte und Bewohner von Lynchville. Sein anfänglicher
Sturz, der durch die Hauswand als lauter, dumpfer Schlag in den Picketfencegarden
dringt (in dem sich die Kamera gerade aufhält und der aus Blue Velvet hätte
stammen können), suggeriert Bedrohlichkeit, wird jedoch schnell in die
Alltäglichkeit zurückgezogen: Er ist nur das Alter, das Alvin Straight
zu Fall gebracht hat. Die Schwangere, die auf der Flucht vor ihrer Familie Nachts
mit Straight am Lagerfeuer sitzt: Könnte das nicht ebenso Lula Fortune
aus Wild at Heart sein, deren Sailor wieder einmal einsitzt? Und die Lady, der
Straight auf der Straße begegnet - die, die in einer Woche acht Rehe überfährt?
Ihr Schicksal ist dem Fred Madisons / Pete Daytons (Lost Highway) nicht unähnlich.
Auch sie ist determiniert in einer Hölle, die sie nicht interpretieren
kann, aber durch die sie dazu gezwungen wird, es trotzdem zu tun.
Wie jede These, verlangt auch die von Lynch als Meta-Theoretiker eine detaillierte
Ausführung, die hier kaum zu leisten ist. Es scheint sich jedoch ein Zugang
zum enigmatischen Spätwerk Lynchs zu bieten, der (ohne natürlich
alleingültig sein zu wollen) einiges (er)klären könnte. Genaues
Hinsehen steht dabei an erster Stelle. Aber dazu haben David Lynchs Filme ja
schon immer aufgefordert - und darin liegt auch der endlose Reiz an ihnen: Sie
ziehen einen in ihre hermeneutische Spirale.
[Stefan Höltgen]